Von der Notwendigkeit entgrenzten Denkens – Was Politik von Amerigo Vespucci lernen kann

Vor genau 500 Jahren starb Amerigo Vespucci. Als Seefahrer, Entdecker und Visionär verstand er es, über Grenzen etablierter Horizonte hinauszuweisen. In Zeiten der Globalisierung ist diese Eigenschaft für ein friedvolles Miteinander wichtiger denn je. Politik kann dabei Vorbild sein, in dem sie Impulse setzt, das eigene Bild über das „Fremde“ stets zu hinterfragen. Von Dennis Slobodian

Als Christoph Kolumbus 1492 nach 61-tägiger Reise seinen Fuß auf den Strand der Insel San Salvador setzte, war ihm eines unmissverständlich klar: Er hatte das Ostende Indiens erreicht. Bis zu seinem Tod 1506 hielt der genuesische Seefahrer an dieser Überzeugung fest. Ein Jahr später schrieb der deutsche Kartograf Martin Waldseemüller „America“ auf eine noch weitgehend unbefleckte Landmasse seiner Weltkarte. Namenspatron war Amerigo Vespucci, der den Irrtum seines Zeitgenossen erkannte und in den Neuentdeckungen einen eigenständigen Kontinent ausmachte. Der Gelehrte aus Florenz verbreitete diese Überzeugung in ganz Europa und ging dafür in die Geschichte ein. Jedoch hatte er viel mehr als das heutzutage Selbstverständliche behauptet. Vespucci zog das damals Selbstverständliche massiv in Zweifel und erschütterte das unumstößlich scheinende Weltbild seiner Zeit.

Der diktierte Zeitgeist
Um 1452 in Florenz geboren war Amerigo Vespucci zunächst Buchhalter für die berüchtigte Kaufmannsfamilie Medici. Seine Faszination für die Seefahrerei zog ihn bald darauf nach Sevilla in einen Betrieb, der Schiffsexpeditionen ausrüstete. Getrieben von seiner Leidenschaft für Astronomie und Navigation bekam der gelehrte Humanist Ende des 15. Jahrhunderts selbst die Möglichkeit mit einer spanischen Expedition den Atlantik zu überqueren, um Neues zu entdecken und mit Altem zu brechen.

Dabei waren neues Wissen und Fortschritt in der Frühen Neuzeit Europas stets negativ besetzt. Das Positive war in der Vergangenheit zu finden. Für die gelehrten Humanisten lag alles Gute in der „Goldenen Zeit“ der Antike und nach christlichem Glauben konnte man in naher Zukunft lediglich die Apokalypse erwarten. Das Christentum und der Humanismus bestimmten als die vorherrschenden Welterklärungsinstanzen auch das räumliche Weltbild eines jeden Europäers. In dieser heilsgeschichtlich konstruierten Welt existierten nur Europa, Afrika und Asien. Ein vierter Kontinent passte weder ins geografische Konzept von Ptolemaios noch in die Glaubensgrundsätze der katholischen Kirche. Dogmatisches Wissen diktierte den Zeitgeist und war unhinterfragbar.

Das Establishment in Europa war erschüttert
Damit segelte Amerigo Vespucci 1501 nicht nur gegen die Strömungen des Atlantiks an, sondern gegen die vorherrschenden geistigen Strömungen seiner Zeit. Was der Florentiner jenseits des Ozeans sah, brachte nach seinen geographischen Untersuchungen einen bis dato unbekannten Kontinent ans Licht. Vespucci erhob die menschliche Erkenntnis über das geschriebene Wort Gottes und über das Wissen anerkannter Denker. Mit seinem Brief „Mundus Novus“ zeichnete er die Erfahrungen aus Übersee auf und konfrontierte Europa mit einer völlig fremden Welt. Es mag nicht verwunderlich sein, dass der Florentiner mit seinen Behauptungen einer massiven Opposition etablierten Denkens gegenüberstand, die sich in ihrer Bequemlichkeit wohlfühlte, die gesamte Welt bereits erklärt vorliegen zu haben. Das Establishment in Europa war erschüttert – aber von Einsicht keine Spur. Viele erklärten seine Behauptungen für nichtig und hielten an ihren Helden der Antike fest. Über eine scheinbar unüberwindbare Mauer aus Vorurteilen über die Beschaffenheit der Welt wies Vespucci bis zu seinem Tod 1512 beharrlich hinaus. Letzten Endes wurde er belohnt, indem er nichts weniger als den Horizont Europas erweiterte.

Neue Grenzen – alte Vorurteile
500 Jahre nach dem Ableben Vespuccis wird in den modernen Industriestaaten Europas Fortschritt vorwiegend positiv bewertet. Die Ansicht, dass bestehendes Wissen über keine absolute Geltung verfügt, ist in der aufgeklärten Wissensgesellschaft Konsens. Trotzdem ist die Abneigung vor dem Fremden und Unbekannten noch tief im Menschen verwurzelt. Sie äußert sich heutzutage verstärkt in anderer Form: Oft historisch und kulturell geprägte Vorurteile sind täglich erfahrbar, noch immer beständig und oft Ausdruck von begrenzten Horizonten. Einseitig geführte und klischeebehaftete Integrationsdebatten und die Bestärkung eines verzerrten Bildes fremder Länder und Kulturen erfahren nicht zuletzt durch Massenmedien Auftrieb. Pauschalisierungen wie „Junge Muslime verweigern Integration“, Abwertung anderer Nationen wie „Pleitegriechen“ und das Schüren von Ängsten wie „Deutsche zittern vor der China-Invasion“ prägen die Schlagzeilen der Boulevardpresse und scheinen Ressentiments gegenüber Fremden regelmäßig zu bestätigen.

Werden derartige Vorurteile populär, kann aus Egozentrismus heraus eine Politik erwachsen, die Abschottung und Rückschritt anvisiert. Dass einst abgeschaffte Grenzlinien innerhalb der europäischen Union wieder zur Debatte stehen, ist ein Anzeichen dafür. Dabei ist ein möglichst offener und vorurteilsfreier Umgang mit fremden Kulturen und Mentalitäten eine der größten Herausforderungen in Zeiten der Globalisierung. Alte Grenzen nicht wieder aufleben zu lassen ist dabei ein besonderer Auftrag an die Politik. Sie muss sich im Umgang mit dem Fremden ihrer Vorbildfunktion bewusst sein. Politik ist jedoch weder Erziehungseinrichtung noch kann sie in Köpfe hineinregieren – aber sehr wohl kann sie eine Instanz sein, die verkrustete Vorurteile in Frage stellen kann und damit neue Sichtweisen auf das Fremde ermöglicht.

Der Bundespräsident als Vespucci der Moderne?
Amerigo Vespucci war seiner Zeit voraus. Durch einen offenen Geist besaß er die Gabe, über sein eigenes Weltbild hinauszuschauen und anderen dies zu vermitteln. Aber wer in der heutigen Politik wäre in der Position es ihm gleichzutun? Wie keine andere politische Institution vermag der Bundespräsident Impulsgeber für einen offenen Umgang mit dem Fremden zu sein. Der Entwicklung in den letzten Jahren zum Trotz – als das höchste Amt Spielball des Parteiengezänks wurde – kann das Staatsoberhaupt jenseits von machtpolitischer Profilierung die Wirkmächtigkeit des Wortes nutzen, um starre Vorurteile zu hinterfragen und über Grenzen hinauszuweisen. „Erst wenn wir uns einander ganz und ernsthaft öffnen und annehmen, nähern wir uns dem tieferen Sinn von Einheit“, „Brüssel ist à la longue wichtiger als Berlin“ und „Der Islam gehört zu Deutschland“ sind Aussagen mit Wirkung nach innen. Es sind Anstöße, globaler zu denken und sich mit eigenen Überzeugungen kritisch auseinanderzusetzen.

„Zu ermutigen und zu warnen, das ist die entscheidende Aufgabe des Bundespräsidenten“, sagte einst Theodor Heuss. Zu ermutigen nationale Perspektiven international zu denken und davor zu warnen, aus engen Horizonten heraus politisch zu handeln, mögen heutzutage die herausragenden Aufgaben des Staatsoberhauptes sein. Gleich zu Beginn seiner Amtszeit bekannte sich Joachim Gauck klar zum europäischen Weg zur Lösung grenzüberschreitender Probleme. Die Skepsis in Deutschland darüber mag er nicht gänzlich ausräumen, die Mauern aus Vorurteilen nicht aufbrechen. Aber zumindest vermag er eine Kerbe zu schlagen, durch die im Idealfall viele Menschen lünkern. Dahinter gibt es keine neuen Kontinente zu entdecken, aber noch weit größere unentdeckte Gebiete der kulturellen und geistigen Vielfalt in einer Welt, die beständig näher zusammenrückt.