Von Visionären und Worten für die Ewigkeit

Eine kleine Geschichte darüber, wie man mit einer Geschichte nicht nur über die Geschichte Geschichte schreiben kann. Von Mirco Rolf

Albert Frederick Arthur George hat ein Problem. Er stottert. Zwar arbeitet er schon lange – zuletzt mit Unterstützung seiner Frau und unkonventionellen Methoden – hieran, doch wird er Zeit seines Lebens öffentliche Auftritte und Reden nur widerstrebend absolvieren. Am 3. September 1939 erwartet den 43-jährigen jedoch eine besondere Herausforderung. In einer Radioansprache wird er, König George VI. des Vereinigten Königreichs und Oberhaupt des Commonwealth, den Eintritt Großbritanniens in den Zweiten Weltkrieg gegen das nationalsozialistische Deutschland erklären. Spätestens seit der Oscar-gekrönten Verfilmung ist diese Episode der Geschichte weithin bekannt. Im Film läuft dabei alles auf diesen einen Moment, der in die Geschichtsbücher eingehen wird, hinaus: The King’s Speech. Die eine entscheidende Rede.

Der Bundespräsident und die Macht der Worte

46 Jahre später wird der Zweite Weltkrieg erneut zum Thema einer historischen Rede. Bundespräsident Richard von Weizsäcker hält sie am 8. Mai 1985, 40 Jahre nach dem Tag der Befreiung und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges. Seine Rede und die entfaltete Macht seiner Worte bewirken eine Zäsur, einen veränderten Blick auf die eigene Geschichte. Es mag dahingestellt bleiben, ob diese Rede Anfang oder Ende eines Prozesses der Blickverschiebung war. Fest steht, dass er als Bundespräsident Sprache gezielt als Instrument der Politik, als wirkungsvollstes Machtmittel seines Amtes, genutzt hat. Sein Nachfolger Roman Herzog bleibt ebenfalls mit seiner zentralen Rede – „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen“ – im Gedächtnis. Und auch bei Horst Köhler und Christian Wulff richtet sich das Augenmerk neben dem jeweiligen Ende ihrer Amtszeit auf wenige Reden, in denen entweder die Finanzmärkte als Monster oder der Islam als Bestandteil Deutschlands beschrieben wurden.

Bundespräsidenten scheinen dabei besonders auf ein Gespür für den richtigen Moment für die richtige Rede angewiesen zu sein. Die Rede bleibt stets ihr Hauptwerkzeug für den Bau des eigenen Denkmals und zur eigenen Akzent- und Schwerpunktsetzung. Ob Mauerfall, Tag der deutschen Einheit oder Kriegsende – die Liste der Jahrestage historischer Ereignisse ließe sich nicht nur beliebig fortsetzen, sie ist auch eine Sammlung von möglichen Anlässen, um selbst durch die Wahl der richtigen Worte in die Geschichte einzugehen. Qua Amt haben sie als Staatsoberhaupt dabei gewissermaßen einen kleinen Startvorteil gegenüber anderen Politikern, die diesen aber dadurch wett machen können, dass sie ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit erzeugen.

Patentrezept für große Reden?

Doch wie müssen die Worte für eine Rede historischer Tragweite gewählt werden, wenn alle Augen auf den einzelnen Politiker gerichtet sind? Natürlich lässt sich eine ganze Palette rhetorischer Mittel finden, die je nach Gusto zusammengemischt und gerührt (oder wahlweise geschüttelt) werden können. Ein Patentrezept gibt es dabei sicherlich nicht. Allerdings bietet sich eine Strategie an, um über einzelne Stilmittel hinaus zu kommen: das Erzählen einer Geschichte. Hiermit ist allerdings weniger eine persönliche Erzählung als viel mehr die Konstruktion eines größeren Zusammenhangs gemeint. Unbestritten kann eine politische Rede, insbesondere wenn sie im parlamentarischen Raum gehalten wird, dazu genutzt werden, Argumente vorzutragen und abzuwägen. Sie kann aber auch genutzt werden, um gegenwärtige Entscheidungen, für die es Mehrheiten zu organisieren gilt, in einen Zusammenhang mit anderen Ereignissen und Entwicklungen zu bringen und (kausale) Zusammenhänge darzustellen. Hierfür bieten sich zwei Möglichkeiten: zum einen der Blick zurück und zum anderen der nach vorne, wobei häufig bei einer Verknüpfung beider Perspektiven eine besonders in den Vordergrund rückt.

Während der Rückblick meist eine Umdeutung, Neuinterpretation oder auch nur Erinnerung der Geschichte beinhaltet, schafft der Ausblick Visionen und zeigt mögliche Ziele auf. Während das Erbe der Vergangenheit einen konkreten Rahmen für gegenwärtige Entscheidungen definiert, lassen sich aus der Zukunft verschiedene Zwänge und Notwendigkeiten ableiten und interpretieren. Auch wenn die Geschichte Deutungsspielraum lässt, ist dieser beim Blick voraus deutlich größer. Dementsprechend größer sind folglich auch die Ansprüche an die Erzählung, die die Botschaft der Rede vermitteln soll. Wird der Redner jedoch diesen Ansprüchen einer visionären Rede gerecht, dann steigen zumindest die Chancen einer großen Resonanz.

„I have a dream“

In der Historie lassen sich dafür viele Beispiele finden, bei denen Ziele und Ideen, Träume und Visionen Kern einer Rede waren. Diese Reden haben nicht nur in der jeweiligen Zeit, sondern weit darüber hinaus Wirkung entfaltet. „I have a dream“ ist zum Synonym für eine solche visionäre Rede geworden. Aber nicht nur Martin Luther King, sondern auch sein Landsmann John F. Kennedy, hat mit seinem Aufruf, dass es noch bis zum Ende des Jahrzehnts gelingen müsse, einen Mann sicher zum Mond und zurück zu bringen, die Ziele seiner Politik abgesteckt. Eingehüllt war Kennedys Aufforderung in die Geschichte vom Kampf um Frieden und Freiheit im Weltraum alleine durch Wissen und Fortschritt. Dass Visionen allerdings immer auch eine Gratwanderung sind, hat der Vorwahlkampf der Republikaner in der Vereinigten Staaten gezeigt. Als Newt Gingrich forderte, es müsse noch bis 2020 gelingen, eine amerikanische Mondkolonie zu errichten, erschien dieses Ziel nicht nur unzeitgemäß, sondern fernab der Sorgen der Menschen in Krisenzeiten. In der Wahrnehmung der breiten Bevölkerung wird aus dem avantgardistischen Visionär dann schnell ein wirklichkeitsferner Träumer oder gar ein zu vernachlässigender Verrückter.

Visionen ohne Arzt

Die Moral von der Geschicht’: Für eine Vision reichen Sonne, Mond und Sterne nicht! Doch welche Themen eignen sich dann für Visionäre? Vielleicht ist die Antwort ganz einfach – vielleicht sind es nahezu alle. Egal ob zu den Sozialen Sicherungssystemen (Stichwort: bedingungsloses Grundeinkommen) oder zum demografischen Wandel, zur Zukunft der Europäischen Union (Stichwort: Vereinigte Staaten von Europa) oder zum Ausbau der Kinderbetreuung: Zu allen Themen lassen sich mehr oder minder revolutionäre Ideen entwickeln, die sich aufmerksamkeitswirksam von der breiten (Politik-)Masse abheben. Doch alleine auf dem Papier entfalten diese Ideen keine große Wirkung. Papier schweigt. Deswegen sollten Politiker mit Visionen nicht zum Arzt, sondern an die Öffentlichkeit gehen!

Der Bundespräsident hat bei Weitem kein Privileg auf große Reden und Worte, die für die Ewigkeit bleiben. Im Gegenteil: Visionskompetenz ist eine Machtressource, die bisher von fast allen Politikern zu selten genutzt wird. Wer Ziele aufzeigt, kann überzeugen; wer überzeugt, bekommt Mehrheiten; wer Mehrheiten hat, kann Visionen umsetzen. Natürlich ist in den Geschichtsbüchern kein Platz für jede Rede. Ein Paar mehr dürfen es aber noch werden.