Schulden oder keine Schulden, das ist hier die Frage

Weniges dominierte die politische Debatte in den letzten Jahren so sehr wie die Frage nach der Verschuldung der Öffentlichen Hand. Ob Staatsschulden als Grundübel der aktuellen Krise oder „Vorsorgender Sozialstaat“ mit zählbarer politischer wie finanzieller Rendite: Es ist höchste Zeit, „die Schulden“ als Herzstück finanz- und sozialpolitischer Narrative unter die Lupe zu nehmen.

„Finanzstabilität“, „Haushaltsdisziplin“, „Wiedererlangung der Wettbewerbsfähigkeit“ – Schlagworte, die man immer häufiger hört. Die dazugehörige Geschichte geht ungefähr so: Wer sich in disziplinloser Maßlosigkeit ergeht, macht zu viele Schulden – Staaten werden so zum Spielball der Finanzmärkte, an denen sie ihre auslaufenden Verbindlichkeiten refinanzieren müssen. Das schränkt ihre politische Handlungsfähigkeit ein. Und weil wir in Europa alle im sprichwörtlichen selben Boot sitzen, müssen auch alle darauf achten, ihre Finanzstabilität nicht aufs Spiel zu setzen – oder sie wahlweise zumindest wieder zu erlangen. Das setzt haushalterische Disziplin voraus. Kurzum: Schulden und vor allem Staatsschulden sind das Grundübel unserer krisenhaften Zeit. Mögliche andere Gründe für die aktuelle Misere werden in der öffentlichen Debatte deutlich von Schulden und der Konsolidierung staatlicher Haushalte dominiert.

Es ist eine triviale Erkenntnis: Nahezu jede ökonomische Größe ist für sich genommen nutzlos. Erst in Relation zu anderen ökonomischen Werten erlangt sie eine Gewisse Aussagekraft. Schon Helmut Schmidt, als Kanzler immer wieder für seinen ökonomischen Sachverstand gepriesen, wusste: „Was Wachstum schafft, darf sehr wohl mit Schulden finanziert werden.“ Man darf getrost unterstellen, dass Schmidt die Pauschalität dieser Aussage einschränken würde, käme er hier zu Wort. Doch die Dominanz des Schulden-Arguments verstellte den Blick auf grundlegende ökonomische Zusammenhänge: Dass nämlich zur Beurteilung von Schulden auch immer die Betrachtung der Gegenwerte gehört. Für jene politischen Akteure, die für eine Ergänzung des Austeritätskurses in Griechenland um ein Wachstumsprogramm kämpften, war es harte Arbeit, mit dieser einfachen Botschaft durchzudringen: dass die alleinige Fixierung auf den Abbau von Schulden kontraproduktiv sein würde. Mit einem schuldenfreien, aber ökonomisch allein nicht überlebensfähigen Griechenland sei auch niemandem gedient, war das Argument. Doch so problematisch die Schuldenlage in Griechenland auch gewesen sein mag und noch immer ist: Für größere – ergänzende – ökonomische Zusammenhänge war in der öffentlichen Debatte kaum noch Raum.

„Mehr Schulden?“ – „Ja, aber…“

Die Fokussierung auf „die Schulden“ als Ursache für die prekäre Lage von Staat und Gesellschaft vor allem (aber nicht nur) in Griechenland hatte in der Debatte vollumfänglich durchgeschlagen. Dabei hätte sogar ein Blick in die deutsche Insolvenzordnung gereicht. Dann zeigt sich nämlich: Hierzulande ist es eine Selbstverständlichkeit, beide Seiten der Medaille zu betrachten – also die Schulden den vorhandenen Werten gegenüberzustellen. Die Insolvenzordnung regelt, wann Schulden problematisch werden – wann also der Überschuldungsfall eintritt: Wenn „das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt.“ Man kann Staaten nicht mit Unternehmen vergleichen, ein Indiz für die Verknüpfung von ökonomischen Größen miteinander ist es trotzdem. Wenn also Schulden ökonomisches Wachstum oder nachhaltige Werte schaffen, dann müssen sie kein Teufelszeug sein. Dass in Spanien, Griechenland und all den anderen betroffenen Ländern sicher auch Schindluder mit geliehenem Geld getrieben wurden, steht außer Frage. Trotzdem: Die eindimensionale Fixierung auf „die Schulden“ greift zu kurz und verhinderte eine ehrliche und vor allem wirklichkeitsnahe Debatte ohne Ressentiments.

Dem vermeintlichen Mainstream entgegen, versuchten einige politische Akteure eine andere Geschichte zu erzählen. Ein Beispiel dafür findet sich direkt vor der Haustür des „Hammelsprung“: Hannelore Kraft und die NRW-SPD rechtfertigten ihre Haushaltspolitik mit dem „Vorsorgenden Sozialstaat“. Man ging mit dieser Geschichte sogar in den Wahlkampf – mag sie auch erst geschrieben worden sein, nachdem man im NRW-Haushalt Posten gesucht hatte, die man künftig einsparen könnte. Die Bedeutung der Staatsverschuldung wird hier jedenfalls völlig umgedreht. Sie wird gar zur Verheißung einer besseren Zukunft: Wer sich heute verschuldet, muss später weniger zahlen. Eine nachhaltige Investition also, sofern an der richtigen Stelle getätigt. Die vorsorgende Sozialpolitik sollte neue Schulden wieder mehrheitsfähig werden lassen – und Rot-Grün endlich eine eigene Mehrheit verschaffen. Was ja auch gelang, wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe der nordrhein-westfälischen CDU und ihres Spitzenkandidaten.

Eigentlich scheint diese Geschichte aber gar nicht so grundanders zu sein als die vom üblen Schuldenstaat. Vielmehr handelt es sich um ein entschiedenes „Ja, aber“. Denn: Die „Investitionsrendite“ dieser Politik führe langfristig dazu, Geld einzusparen – beispielsweise in den Sozialsystemen. Auch hier geht es also darum, die öffentlichen Haushalte in Ordnung zu bringen. Die Schulden würden gezielt und kurz- bis mittelfristig aufgenommen. Dass langfristig Geld eingespart werde, reklamieren beide Positionen für sich. Strittig ist nur der Weg zur Konsolidierung. Und: Beide Seiten halten den Weg der anderen Seite für ökonomisch unvernünftig. Der eigene Umgang mit Schulden hingegen sei es, der den Weg in eine bessere Zukunft ebne.

Kein Parteien-Einheitsbrei

Die Verschuldung ist so zu einem Politikum geworden. Sie ist nicht nur Instrument, sie ist auch Argument. Schulden oder keine Schulden: Das kann am Ziel eines politischen Programms oder aber Mittel zum Zweck sein. Mit der Ablehnung von oder der Zustimmung zu Schulden sind teilweise sogar politische Grundwerte assoziiert. Langfristige Schuldenfreiheit wird zum Wert an sich. Die Staatsverschuldung und der Umgang mit ihr hat eine quasi-narrative Qualität gewonnen. Dem jeweils anderen wird ökonomische Ahnungslosigkeit unterstellt: Wer sich nur auf Schuldenabbau konzentriere sei angstgeleitet, ökonomisch eindimensional und wisse nicht, welche Einschnitte der berühmte „Kleine Mann“ zu erdulden habe. Oder aber: Wer mit „präventiver Sozialpolitik“ mehr Schulden mache, kaufe Wählerstimmen, sei disziplinlos und letztlich zu schwach um endlich aufzuräumen.

Die beiden Gegenpositionen ähneln dabei in ihrer Struktur dem Dualismus von Neoklassik und Keynesianismus. Der weitverbreiteten Ansicht, die politischen Parteien seien gerade in Zeiten der Krise noch weniger unterscheidbar geworden, als sie es ohnehin schon gewesen seien, kann man hier also etwas entgegenhalten: Dass nämlich gerade in dieser Frage wieder auf traditionelle wirtschaftspolitische Argumentationsmuster des eigenen Lagers zurückgegriffen wird. Das erhöht die Trennschärfe zwischen den Parteien deutlich und ist vielleicht eine positive Nachricht in all den Krisen-Meldungen dieser Tage.

Politische Kommunikation: Grau ist alle Theorie

Interessant ist aber auch noch eine zweite Überlegung: Welche Rolle spielen eigentlich Schulden in der ökonomischen Theorie? Und da zeigt sich: So umstritten die Verschuldung der öffentlichen Hand in der Debatte auch sein mag, so klar ist die Rolle der Schulden in der Theorie. In der Ökonomie sind Schulden seit jeher nicht nur ein Bestandteil aller relevanten Theorien, sondern sie ermöglichen erst deren Plausibilität. Ob Neoklassik oder Keynesianismus: Schulden sind das Schmiermittel des Wirtschaftens – ob Politikum oder nicht. Im Grunde ist alles ganz einfach: Wir leben in einer Tauschwirtschaft, die in Form einer Geldwirtschaft organisiert ist. Um die Abläufe zu vereinfachen, wird das Gut Geld zum allgemeinen Tauschgut. Wer es nicht besitzt, der kann es erwerben – und hier kommen die Banken ins Spiel. Dort erhält man Geld und tauscht dafür ebenfalls Geld ein – aber erst zukünftig, weil man es momentan ja nicht besitzt. Es handelt sich also um einen Kredit. Geld früher zur Verfügung zu haben als ohne Kredit, hat für den Kunden also offenbar einen Wert: Für diese sogenannte „marginale Gegenwartsvorliebe“ zahlt er – und zwar ziemlich genau in Höhe der Zinsen, mit denen die Bank vergütet wird. So wird ein „Stocken“ des Wirtschaftskreislaufes verhindert.

Irgendwie wirkt das alles recht harmlos. Schulden sind in dieser Vorstellung nichts, das es zu vermeiden gilt. Andererseits sind weder permanent klamme Kassen noch Dauerschuldendienste vorgesehen: Wie hoch die Schulden sind, wer sie aufnimmt und was damit finanziert wird, wird hier ausgeklammert. Es sind erst die in der politischen Debatte damit verknüpften Frames und Narrative, die Schulden als solche ins positive oder negative Licht rücken – gerade seit dem Aufkommen der Krise. Solche Geschichten erfolgreich zu erzählen, ist eine Frage von politischem Gewinnen und Verlieren. Es zeigt sich: Gezielt hervorgerufene Assoziationen können tatsächlich Mehrheitsverhältnisse beeinflussen. Gut, das noch einmal bestätigt zu wissen. Wichtig ist aber auch: Wenn sie wirken, können Frames, Narrative und Storylines jenseits von Partikularinteressen wirklich relevant für umfassende politische Stimmungen werden – und zwar in allen Teilen der Gesellschaft. Gerade in ökonomischen Krisen gilt also, dass seine Worte wägen sollte, wer kommunikative Macht besitzt. Das ist eine Frage von politischer Verantwortung.

 

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