Nicht alles was glänzt ist Gold

Die vorsorgende Sozialpolitik der rot-grünen Regierung in NRW verspricht die Probleme des deutschen Sozialstaates zu lösen. Manche mögen dies als eine Bürde für den Politikansatz betrachten. Es drängt sich die Frage auf: Funktioniert es? Wagen wir einen Blick in die Zukunft. 

2022: Ministerpräsidentin Hannelore Kraft tritt an das Rednerpult im Düsseldorfer Landtag. In nur wenigen Augenblicken wird sie eine Regierungserklärung halten, die ihre vierte Legislaturperiode eröffnen soll. Mittlerweile schickt sich die Landesmutter an, es ihrem Parteikollegen Kurt Beck gleichzutun – 12 Jahre hat sie schon auf ihrem Konto stehen. Anders als Beck hat sie Berlin allerdings immer gemieden und entzog sich auch stets den Kanzler-Avancen der SPD-Männerriege. ‚NRW im Herzen‘: Sie ist ihrem Bundesland treu geblieben.

In ihrer Rede sind es vor allem die Erfolge, die ihre politische Analyse bestimmen. NRW geht es gut. So einfach wie bestechend ist ihre politische Botschaft. Die Schuldenbremse stellt schon lange kein Damoklesschwert für die Regierung mehr dar – der Haushalt ist ausgeglichen. Der Schlüssel hierzu ist ein Urkonzept der Sozialdemokratie, das sie zu Beginn ihrer ersten Amtszeit aus der Mottenkiste herausgezogen, entstaubt und aufpoliert hat. Sprachlich zugespitzt, lässt sich diese Politik nicht ablehnen: „Kein Kind wird zurückgelassen“. In NRW ist die vorsorgende Sozialpolitik politisch eingeschlagen wie eine Bombe – weil sie funktioniert. Die politische Landkarte der sprichwörtlichen Herzkammer der Sozialdemokratie wurde nachhaltig verändert. Die Kompetenzwerte der SPD in Sozial-, Gesundheits- und Bildungspolitik sind durch die Decke geschossen, sobald der Ansatz Früchte getragen hat. Sogar in Fragen der Finanz- und Haushaltspolitik ist die CDU abgeschlagen.

Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen

Frau Kraft braucht die immer wieder geäußerte Kritik, vorsorgende Sozialpolitik sei nur ein Euphemismus für den Rückbau des Sozialstaates, nicht zu widerlegen. Nachsorgender und vorsorgender Sozialstaat schließen sich nicht gegenseitig aus. Sie ergänzen sich vielmehr. Der Schwerpunkt liegt nur darauf, lieber mehr Geld in die Vermeidung von sozialen Folgekosten als in die Reparatur dieser zu stecken. So kann Frau Kraft eine einfache Rechnung präsentieren – die Investitionen in die Zukunft haben sich ausgezahlt. Nicht nur führen sozialpräventive Maßnahmen mittelfristig zu geringeren staatlichen Ausgaben, sondern sie führen auch zu staatlichen Mehreinnahmen. Bildung stand dabei im Zentrum der politischen Anstrengungen. Natürlich kostet bessere Qualifikation Geld. Doch die Ergebnisse können sich sehen lassen, wovon Frau Kraft in ihrer Rede eine eindrucksvolle Kostprobe gibt: So ist es gelungen, die Quote der Schulabgänger ohne Abschluss mehr als zu halbieren. Noch 2010 gingen in NRW über ein Drittel der Jugendlichen, die von der Schule ins Berufsbildungssystem wechselten in das Übergangssystem. Die meisten von ihnen ohne Berufsausbildungsverhältnis. Hier konnte die Ausgangszahl von knapp 33 000 Schülerinnen und Schülern, die sich in „Maßnahmen zur Herstellung der Ausbildungsfähigkeit“ befanden, auf unter 10 000 gesenkt werden.

Ein politischer Jungbrunnen

Diese Bilanz ermöglicht es der Ministerpräsidentin zu verkünden, dass über eine Milliarde Euro jährlich an Personalkosten sowie Sachaufwand eingespart werden kann. Jedoch ist dies noch nicht alles. Denn der Bonus der vorsorgenden Sozialpolitik ist das „Mehr“ an Steuereinnahmen. Es liegt auf der Hand, dass höhere Bildungsabschlüsse auch ein höheres Bruttoerwerbseinkommen zur Folge haben. In NRW hatten 2008 etwa 1,4 Millionen Personen keinen Berufsabschluss und verdienten somit im Schnitt 28 000 Euro weniger als Erwerbstätige mit einem Hochschulabschluss und noch 11 500 weniger als solche mit einer Berufsausbildung. Aus Perspektive des Staates heißt das Steuerausfälle. Die indirekten sozialen Folgekosten rechneten sich also für NRW auf insgesamt rund 1,4 Milliarden Euro auf. Zusätzlich stellen sich positive volkswirtschaftliche Effekte ein, da mehr konsumiert werden kann.

Nichtsdestotrotz wäre Hannelore Kraft nicht Hannelore Kraft, wenn sie den Menschen nicht in den Mittelpunkt ihrer Regierungserklärung stellen würde. Denn der größte Erfolg ist die Verbesserung der Lebensqualität jedes Einzelnen. Die erste Frau in NRW erinnert daran, dass noch nicht alle Arbeit getan und der Schatz der sozialen Prävention noch nicht vollends gehoben wurde. Mit der vorsorgenden Sozialpolitik hat sie jedoch einen Pfad eingeschlagen, der ihr dafür noch viel Zeit lassen dürfte.

Jede Münze hat zwei Seiten, oder auf Schuldenbergen kann man nicht spielen

2022: Ministerpräsident Norbert Röttgen tritt an das Rednerpult im Düsseldorfer Landtag. Für ihn endet ein langer steiniger Weg, der ihn (vorerst?) an seinen politischen Höhepunkt geführt hat. Nach langjähriger SPD-Dominanz hat er die zerstrittene NRW-CDU wieder geeint und wurde dafür mit dem Wahlsieg belohnt (zu Guttenberg ist übrigens nicht Kanzler). In seiner Regierungserklärung fällt die SPD-Bilanz eindeutig aus – sie hat abgewirtschaftet, das steht für Röttgen fest. Jedenfalls taugte diesmal die Haushaltspolitik als Wahlkampfschlager. Es ist das eingetreten, was sich schon lange abgezeichnet hatte: Auch zum zweiten Jahr in Folge hat NRW die Schuldenhürde gerissen. Jedes Jahr war die Neuverschuldung gestiegen, jedes Jahr setzte die SPD ihre Hoffnung auf eine Investitionsrendite, doch diese Hoffnung war trügerisch. Negative Konjunkturentwicklung und steigende Pensionslasten brachten den Landeshaushalt zusätzlich zum Explodieren. Mit der vorsorgenden Sozialpolitik wurde ein finanzpolitisches Risiko eingegangen. Röttgen greift nostalgisch vor allem einen Slogan auf: Kraft kann Schuldenkönigin.

Prinzip Hoffnung

Warum ist die vorsorgende Sozialpolitik gescheitert? Die Hauptursache liegt in fehlendem Steuerungswissen, sodass das erzielbare Präventionspotenzial schlicht überschätzt wurde. Fragen nach der Effizienz und den Wirkungszusammenhängen von sozialpolitischen Maßnahmen sowie den entstandenen Kosten sind einfach nie klar beantwortet worden. Die Hypothesen waren zu simpel. Komplexe Zusammenhänge lassen sich nicht monokausal erklären! Oder hängt Arbeitslosigkeit nur mit einem Hauptschulabschluss zusammen – wohl kaum. Auch wenn die Verlockung für die Politik groß ist, so kann der Staat nicht alle Probleme mit Geld lösen. Und an die Hand kann er schon gar nicht alle nehmen – Eigenverantwortung ist das Zauberwort. Röttgen lässt sich folglich nicht nehmen ein „It‘s the economy, stupid!“ in Richtung Oppositionsbank zu schmettern.

Wissen ist Geld

Politik ist nicht nur schwarz und weiß – eine Fiktion kann es sein. Chancen und Risiken sind bei der vorsorgenden Sozialpolitik unzweifelhaft eng beieinander. Dabei ist die Frage, wo das Geld am sinnvollsten investiert ist, wirklich nicht leicht zu beantworten. Auch die Wissenschaft tut sich hier schwer. Die Politik hat große Schwierigkeiten sich auf die Zukunft zu verpflichten. Wird eine Investitionsrendite also in die Tilgung von Schulden gesteckt oder werden damit neue Wohltaten finanziert? Außerdem ist vorsorgende Sozialpolitik ein Mehrebenenthema. Der Bund profitiert am meisten, hat aber die wenigsten Kompetenzen. Es ist darum richtig, dass Bundesländer hier voran gehen, denn Bildung ist deren Kernkompetenz. Die Akteure auf allen Ebenen müssen aber an einem Strang ziehen: die Trittbrettfahrerproblematik lässt grüßen. In Deutschland sind von den 25- bis 65-Jährigen rund sieben Millionen ohne Berufsausbildung, jedes Jahr starten 150 000 junge Erwachsene ohne Abschluss in den nächsten Lebensabschnitt – es ist also einiges zu tun. Dennoch bleibt die Frage nach dem richtigen Zeitpunkt. Alle Welt redet vom Sparen, wie soll da glaubwürdig mehr Geld in die Hand genommen werden? Ein Hinweis darauf, dass dies nur über Einsparungen und nicht kreditfinanziert passieren kann – ein Dilemma. Ist nun die vorsorgende Sozialpolitik für die SPD das, was die Steuersenkung für die FDP ist? Politik mit Gegenfinanzierung inklusive? Wenn man es richtig macht, hat man mit der präventiven Politik wahrscheinlich das wirkungsvollste Konsolidierungsinstrument zur Hand. Leider ist noch nicht abzusehen, welche Konsequenzen vorsorgende Sozialpolitik hat. Die Zukunft ist offen…

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