Katastrophen und Staatstrauer – Politik(er) im Ausnahmezustand

ThomasBoecker_HS9_KatastrophenUndStaatstrauer_01_swDie Anordnung einer Staatstrauer als Akt des nationalen Innehaltens stellt in modernen Gesellschaften eine politische Institutionalisierung von Betroffenheit dar, beispielsweise um dem Tod eines verdienten Politikers, einer anerkannten Würdenträgerin oder den Opfern verheerender Katastrophen – oft medienwirksam begleitet – zu gedenken. Die Anordnung einer Staatstrauer symbolisiert die enge Verknüpfung von Politik und Emotionen – von Politik und Trauer.

Doch welche Anforderungen werden in einer Phase der nationalen Schockstarre an die Politik gestellt? Mit welchen Erwartungen sehen sich die handelnden politischen Vertreter in Tagen gesellschaftlicher Tragödien konfrontiert? Wie sieht eigentlich erfolgreiche Krisenpolitik aus?

Staatstrauer ist nicht gleich Staatstrauer

Zweifellos wäre es falsch den offiziell veranlassten Akt einer Staatstrauer mit dem physischen Zustand eines trauernden Staates gleichzusetzen. Ein Blick in die jüngere Vergangenheit allein genügt um zu realisieren, dass sich die jeweiligen Beweggründe und das Ausmaß der Betroffenheit stark voneinander unterscheiden. Gleiches gilt für den politischen Handlungsdruck, der signifikant mit der Verantwortung für die vorangegangene Tragödie korreliert.
So ist es offensichtlich, dass der mit einer Staatstrauer einhergehende Tod von Altbundespräsident Johannes Rau im Jahr 2006 weniger Anlass zur politischen Reaktion bot als beispielsweise das Grubenunglück in der Türkei 2014. Dieses forderte über 300 Todesopfer, die Ermittlungen zufolge durch schärfere Sicherheitskontrollen hätten verhindert werden können. Erdogans Unwille zur politischen Aufarbeitung dieser Katastrophe wurde in der Folge nicht nur in den deutschen Medien stark kritisiert.

Ein weiteres aktuelles Beispiel für eine gesellschaftliche und politische Tragödie findet sich im Juli 2014: Der Absturz von Malaysia-Airlines-Flug 17 (MH17) nahe des ostukrainischen Dorfes Rassypnoje bildete den bis dato traurigen Höhepunkt der Ukraine-Krise. 298 unbeteiligte Zivilisten – darunter 193 Niederländerinnen und Niederländer – die vermutlich nicht einmal wussten, wo genau Donezk und Luhansk auf der Landkarte zu finden sind, fielen diesem Krieg zum Opfer. Diese Tragödie erschütterte die Niederlande bis ins Mark. Der Tod Unbeteiligter, die begründete Vermutung, das Flugzeug könnte von pro-russischen Separatisten abgeschossen worden sein, und die skandalös anmutenden Zustände an der Absturzstelle hoben die weltweite Bestürzung in der Folge auf ein ganz neues Niveau.

Politik nach der Katastrophe: Gratwanderung zwischen Emotionalität und Professionalität

Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie müssten in dieser Situation die Rolle des niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte ausfüllen. Wie würden Sie gegenüber der politischen Führung in Russland – der immerhin eine Teilschuld zugeschrieben wird – reagieren? Und wie würden Sie der Bevölkerung gegenüber, die sie in ihrer politischen Funktion repräsentieren, kommunizieren? Würden Sie sich zum Gedenken der Opfer persönlich betroffen zeigen und emotional handeln? Oder würden Sie ihre Handlungsoptionen auch im Moment der Wut und Trauer sachlich, nüchtern und rational abwägen?

Dieses Gedankenexperiment verdeutlicht die Problematik der ambivalenten gesellschaftlichen Rezeption von Emotionen in der Politik nach Schaal und Heidenreich. Auf der einen Seite dürfen Politiker niemals emotionslos erscheinen. Gefühlsäußerungen verleihen den Aussagen des politischen Akteurs Authentizität und Empathie. Sie unterstreichen die Nähe zwischen Politiker und Wähler. Ja, sie zeigen uns das, was wir alle wissen, aber oft genug vergessen: Auch Politiker sind nur Menschen. Auf der anderen Seite werden emotionale Politiker in der öffentlichen Wahrnehmung schnell als irrational und hysterisch abgestempelt. Sie werden mit Eigenschaften etikettiert, welche in der scheinbar von sachlichen Entscheidungen und rationalen Strategien geprägten politischen Welt eigentlich keinen Platz finden.

Die politische Herausforderung in Zeiten solcher Tragödien besteht in der nachhaltigen Auflösung des vermeintlichen Trade-Off von Emotionalität und Professionalität, von innerer Kontrolle und Authentizität. Während auf der Ebene der Entscheidungspolitik nach Sarcinelli die problemlösungsorientierte Kompetenz politischer Akteure im Vordergrund steht, bedarf es bei der Politikdarstellung viel Fingerspitzengefühl, um die in der Bevölkerung entstehende und medienvermittelte Dynamik der negativen Emotionen zu kontrollieren. Eine dem Rahmen angemessene Krisenkommunikation ist die elementare Legitimationsgrundlage für in dieser Phase zu treffende politische Entscheidungen.
Dieses Artefakt, das für alle politischen Entscheidungen gilt, wird in einem Ausnahmezustand, wie er nach dem MH-17-Absturz herrschte, auf die Spitze getrieben.

Krisenkommunikation und –politik in den Niederlanden

Wie Krisenpolitik nicht funktioniert stellte unlängst der Bürgermeister von Hilversum, Pieter Broertjes, unter Beweis. So forderte er kurz nach dem Flugzeugabsturz in der Ostukraine die Ausweisung von Maria Putin, die seit Jahren mit ihrem Freund in der Nähe von Den Haag lebt. Der Vorschlag entfachte vor allem in den sozialen Netzwerken eine regelrechte Hetzjagd auf die Tochter des russischen Präsidenten. Die Veröffentlichung ihrer Adresse, notwendig gewordener Polizeischutz, anti-russische Bekundungen und ein kaum zu kontrollierender öffentlicher Ruf nach Rache waren die Folge. Broertjes sah sich gezwungen seine „unklugen“ Äußerungen, die in einem „Gefühl der Hilflosigkeit“ entstanden seien, zurückzunehmen. Mit einer öffentlichen Entschuldigung versuchte er der im Zuge seiner Aussagen entstehenden emotionalen Dynamik entgegenwirken.

Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hingegen entschied sich mit einer zivilen Mission für eine zurückhaltende krisenpolitische Linie. Zwar träfe ein Militäreinsatz genau das Gefühl, das viele Menschen, darunter auch er selbst, hätten, „aber es trägt, so unser Ergebnis, einfach nicht dazu bei, unsere allerhöchste Priorität zu realisieren: das möglichst schnelle Zurückholen der Opfer.“
Allein diese Aussage unterstreicht die unbedingte Notwendigkeit der Abwägung von Emotionen und Rationalität im politischen Geschäft. Die sachliche Entscheidung, den zivilen Charakter der Operation am Absturzort beizubehalten, wurde durch ein hochemotionales „Missionsziel“ begründet. Dem niederländischen Regierungschef gelang damit der mittelnde Ausgleich von Sachlichkeit und authentischer Emotionalität im öffentlichen Raum.

Zwar geriet Mark Rutte, auch aufgrund seiner zurückhaltenden Benennung möglicher Schuldiger, für seine sanfte Reaktion gegenüber Russland in vielen nationalen Medien ins Kreuzfeuer der Kritik – seinen Umfragewerten in der Bevölkerung schadete dies aber nicht. In einer von Maurice de Hond durchgeführten Befragung urteilten 74% positiv über das Krisenverhalten des Ministerpräsidenten, nur 16% bewerteten das Regierungsauftreten als schwach. Derart positive Werte hatte eine niederländische Regierung bei einer von de Hond durchgeführten Umfrage bis dahin noch nie erzielt. Die Werte sind Indizien für eine gelungene Krisenkommunikation und –politik nach dem Absturz von Flug MH17.

Politik und Trauer: Institutionalisierung statt Instrumentalisierung

Die Anordnung einer Staatstrauer am Tag der Überführung der zuerst geborgenen niederländischen Leichen stellte ein weiteres zentrales Element der niederländischen Krisenkommunikation dar. Bei der Ankunft der Transportmaschinen auf dem Flughafen in Eindhoven, die live im Fernsehen übertragen wurde, waren neben zahlreichen betroffenen Angehörigen auch das niederländische Königspaar und Regierungschef Rutte anwesend. Sie vermittelten vor Ort, aber auch in der Berichterstattung, ein sehr ergreifendes Bild dieser Zeremonie, erweckten dabei aber nicht den Eindruck durch vorgeschobene Empathie Nutzen aus der Situation schlagen zu wollen.

Eine mögliche Instrumentalisierung dieser oder ähnlicher Situationen gilt es für den politischen Akteur unbedingt zu verhindern, da der damit einhergehende Glaubwürdigkeitsverlust großen politischen Schaden nach sich ziehen kann.

Letztlich lassen sich anhand dieses sehr ergreifenden Beispiels verschiedene Schlüsse ziehen. Zu konstatieren bleibt, dass sich die Paarung von Emotionalität und Professionalität, genauso wie Politik und Trauer, keineswegs ausschließt. Vielmehr bedarf es gerade in Zeiten gesellschaftlicher Tragödien einer geglückten Synthese beider Elemente, um eine starke aber bürgernahe Politik zu betreiben. Darstellungs-, Entscheidungs- und symbolische Politik im Ausnahmezustand bedeuten eine Gratwanderung und damit eine besondere Herausforderung für die verantwortlichen politischen Akteure und das dahinterliegende Politikmanagement.

Schlussendlich lässt sich festhalten: Auch wenn die Politik der niederländischen Regierung ex post sehr positiv bewertet wird, so ist es kaum möglich, diese als Blaupause für die Krisenpolitik anderer Staaten heranzuziehen. Hierfür unterscheiden sich die jeweiligen Fälle sowie die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der jeweilig betroffenen Staaten zu stark. Die detaillierte Beantwortung der Frage nach erfolgreicher Krisen- oder Katastrophenpolitik ist somit letztlich immer nur am Einzelfall möglich.