Berliner Republik – Stress Republik? Warum Politiker so selten an Burnout erkranken

ThomasBoecker_HS9_StressrepublikBurnOutPolitiker_01_swSie arbeiten nicht selten zwischen 70 und 80 Stunden die Woche, erfahren häufig offensive Ablehnung und Kritik und treffen weitreichende Entscheidungen im Gesetzgebungsprozess, dennoch sind Politiker erstaunlich selten vom Burnout-Syndrom betroffen. Bis auf Matthias Platzeck gibt es in Deutschland keinen öffentlichen Fall von krankhafter, emotionaler Erschöpfung in der Spitzenpolitik. Aber woran liegt das?

Bereits vergangenes Jahr meldete der BKK-Bundesverband, dass die Anzahl an Berufstätigen mit psychischen Krankheiten seit Jahren kontinuierlich zunehme. Demnach seien die registrierten Krankheitstage aufgrund von Burnout–Syndrom innerhalb von acht Jahren um das 18-fache gestiegen, Frauen seien dabei wesentlich stärker betroffen als Männer. Psychische Störungen, zu denen auch Burnout zählt, stehen demnach bei den Betriebskrankenkassen als Ursache für Arbeitsunfähigkeitstage bereits an zweiter Stelle hinter Skelett- und Muskelerkrankungen. Zwar sei die Anzahl an Burnout bedingten Fehltagen aktuell leicht rückläufig, dennoch sei die durchschnittliche Krankheitsdauer pro Burnout Fall laut BKK mit 39,7 Tagen nach wie vor mehr als doppelt so lang wie bei anderen Krankheitsbildern wie beispielsweise Rücken- und Gelenkschmerzen. Ganz offenbar unberührt von diesen Zahlen bleibt allerdings das Arbeitsumfeld der Berufspolitiker.

Die Politik erfüllt beste Voraussetzungen für einen Burnout

Dabei scheint es so paradox: Politiker erfüllen offenbar viele der grundsätzlichen Voraussetzungen, um an emotionaler Erschöpfung zu erkranken. Sie sehen sich oftmals mit hohen Arbeitsbelastungen, Stress, fehlendem oder wenig positivem Feedback sowie zu hohen oder unklaren Erwartungen und Zielvorgaben konfrontiert. Auf der persönlichen Ebene spielen die vermeintlich typischen Charakteristika wie übermäßiger Ehrgeiz, hohe Ideale und die Angst vor Gesichtsverlust eine zentrale Rolle. Beide Faktoren zusammengenommen können das Risiko, psychisch zu erkranken, um ein Vielfaches erhöhen. Wolfgang Bosbach, CDU-Politiker und seit 2009 Vorsitzender des Innenausschusses des Deutschen Bundestages, sagte dazu jüngst in einem Interview mit der Rhein-Zeitung, dass die Arbeitsbelastung heute nicht wesentlich höher sei als früher, sich in ihrer Struktur jedoch stark verändert habe, da die Umdrehungsgeschwindigkeit immer größer werde. Dazu haben seiner Meinung nach auch die vielen Onlinemedien und sozialen Netzwerke beigetragen. Demnach sei beobachtbar, dass die heutige Arbeitswelt als solche schnelllebiger ist als noch vor einigen Jahren. Informationen werden in Folge dessen in immer kürzeren Abständen und gleichzeitig größerer Menge bereitgestellt. Eine fachkundige Analyse und abschließende Bewertung von Politikern werde meist direkt im Anschluss daran erwartet. Dies generiere unter öffentlicher Beobachtung und Beurteilung einen zusätzlichen Druck, wobei sich der Umgangston zwischen Medien, Politik und Bevölkerung verschärft habe. Laut Bosbach werden in Deutschland schlichtweg keine Fehler mehr gemacht, da Kleinigkeiten postwendend skandalisiert und aus lösbaren Problemen verkaufsfördernde Katastrophen gemacht werden. Doch diese Sichtweise würde Politiker ganz im Sinne der Mediokratie zu Spielbällen einer einseitigen Abhängigkeitsbeziehung machen, bei der dem Zwang zur mediengestützten Politikvermittlung nachgegeben wird.

Sabine Bätzing-Lichtenthäler, seit 2002 für die SPD im Bundestag vertreten und von 2005 bis 2009 Drogenbeauftragte der Bundesregierung, vertritt auf Anfrage des Hammelsprungs eine andere Ansicht. Zwar stimme auch sie der Aussage Bosbachs, dass sich das Gefühl vom ständigen verfügbar sein müssen gegenüber den Medien innerhalb der letzten Jahre verstärkt habe, grundsätzlich zu. Dies sei allerdings auch eine Folge des Umgangs der Politik mit den Medien. „Kein Politiker ist gezwungen, auf eine Medienanfrage unmittelbar einzugehen. Er/Sie kann immer selber entscheiden, dass das sauber Antworten wichtiger ist, als das schnelle Antworten. Das bedeutet in einer Vielzahl der Fälle, dass man mit dem Thema vielleicht nicht mehr wahrgenommen wird, weil der zur Verfügung stehende Platz von anderen ausgefüllt worden ist. Aber gezwungen, sich zu äußern, ist niemand“, so Frau Bätzing-Lichtenthäler. Dass man mit dieser Einstellung vielleicht nicht Kanzlerin wird, ist Ihr dabei durchaus bewusst.

Vielmehr zeigen diese beiden divergierenden Äußerungen und Ansichten bezüglich des politisch-medialen Zusammenspiels eine Grundproblematik auf, mit denen sich Politiker vermehrt konfrontiert sehen. Oftmals dienen sie als Projektionsfläche für negative Assoziationen mit politischen Handlungsweisen und ihren Auswirkungen. Berechtigte Kritik kippt dabei nicht selten in maßlose Anfeindungen, ein Phänomen, das vor allem in sozialen Netzwerken zu beobachten ist.

„Man muss seine Tätigkeit schon ein bisschen lieben“

Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem die Kluft zwischen dem allgemeinen Ansehen von Politikern und dem persönlich erlebten. Laut Bätzing-Lichtenthäler erhalten Abgeordnete vor Ort ebenso Lob und Zuspruch von BürgerInnen, wenn diese mit der konkreten Arbeit zufrieden sind. Sicherlich spielt in diesem Zusammenhang auch das gesunkene Abstraktionsniveau eine Rolle, durch das eine Abkehr vom fernen Konstrukt des Politikers erreicht und somit vor allem in den jeweiligen Wahlkreisen eine gewisse persönliche Bindung hergestellt werden kann. Dennoch spielt sich ein großer Teil des beruflichen Lebens von Bundespolitikern in Berlin ab, was durch die Doppelbelastung einen steten Spagat zwischen den Anforderungen an Bundes- und Wahlkreispolitik bedeutet. „Man muss seine Tätigkeit schon ein bisschen lieben, damit man den Stress aushält und auch mal eine Woche lang mit 3 Stunden Schlaf täglich auskommt“, ergänzt die SPD-Abgeordnete. Dennoch entscheide jeder Politiker im Endeffekt selbst, wie weit er oder sie bereit ist zu gehen.

Nun ist die Bundespolitik vornehmlich bekannt dafür, kein wirklich zimperlicher Betrieb zu sein. Öffentlich ausgetragene Kämpfe um die Deutungshoheit einzelner Themenbereiche gehören genauso zum Alltagsgeschäft wie innerparteiliche Konkurrenzkämpfe um Posten und Medienpräsenz. Fakt ist allerdings auch, dass es kaum ein anderes Berufsumfeld gibt, indem das öffentliche Diskreditieren anderer Personen (solange sich dies auf die politische Arbeit bezieht) und politisch divergierender Ansichten gleichzeitig sowohl die Profilierung des eigenen Selbst als auch den Abbau angestauten Ärgers ermöglichen kann.

Spitzenpolitiker sind aus einem bestimmten Grund an der Spitze

Das dabei aber das Arbeitsumfeld der Politiker eine ganz besondere Rolle spielt, weiß Prof. Dr. Rainer Wieland, Leiter des Arbeitsbereiches Arbeits- und Organisationspsychologie der Bergischen Universität Wuppertal: „Das hohe Maß an Verantwortung wird ja kollektiv getragen, und wir wissen, dass soziale Unterstützung und gemeinsam getragene Ziele den Einzelnen entlasten. Es gibt hier einen wichtigen Selektionseffekt: Spitzenpolitiker sind deshalb an der Spitze, weil sie offenbar besondere Fähigkeiten besitzen, die sie an die Spitze gebracht haben. Anzunehmen ist, dass es insbesondere drei Kompetenzbereiche sind, die Spitzenpolitiker auszeichnen: Hohes Ausmaß an (emotionaler) Selbstregulationskompetenz, eine hohe Ambiguitätstoleranz, d.h. die Fähigkeit Vieldeutigkeit, Unsicherheit und Unbestimmtheit zur Kenntnis zu nehmen und ertragen zu können, und eine hohe physische und seelische Robustheit (Resilienz).“

Politiker zu sein bedeutet demnach nicht nur Sympathien zu gewinnen und die eigene Durchsetzungsfähigkeit glaubhaft unter Beweis stellen zu können. Vielmehr müssen sie aus arbeitspsychologischer Sicht einen bestimmten Kommunikationsstil erlernen, der als surface acting bzw. Oberflächenhandeln bezeichnet wird. Dies bedeutet, dass die öffentlich vermittelte Emotion, unabhängig von den erlebten Gefühlen, kongruent sein muss mit den sozial akzeptierten Darstellungsregeln. Durch dieses Handeln bestehe neben dem Schutz vor gesundheitlichen emotionalen Folgen laut Wieland auch die Gefahr des Widerspruchs zwischen dargestellten und erlebten Gefühlen, welcher auf lange Sicht zu einem Burnout-Syndrom führen kann.

Der schützende Fraktionszusammenhalt

Zwar sind sicherlich selbst Politiker mit einem hohen Maß an emotionaler Stabilität nicht vollkommen immun gegen Kritik und Anfeindungen. Doch entsteht durch den Fraktionszusammenhalt auch soziale Integration und damit verbunden eine Einbettung in ein unterstützend-dynamisches Kollektiv, verstanden als einen Raum, der viele der als negativ bewerteten Arbeitsfaktoren kompensieren kann. Besonders interessant ist, Bezug nehmend auf die Ausgangsfrage, die Relevanz des politischen Arbeitszyklus, welcher durch eine ganz bestimmte Art von Ruhephasen gekennzeichnet ist. Laut Prof. Wieland werden Spitzenpolitiker quasi in langen Sitzungen dazu gezwungen, untätig zu sein. Dies sei als eine Art Zwangserholung zu betrachten. Die stark strukturierten Arbeitsabläufe ermöglichen es den Volksvertretern demnach, trotz Stress und legislativer Verantwortung sowohl physisch als auch psychisch kurzzeitige Erholung zu finden.

Dass der gesamte Berufsstand der Spitzenpolitiker vergleichsweise so selten vom Burnout betroffen ist, hat nicht nur damit zu tun, dass vor allem sie darauf bedacht sind bestimmte Krankheitsbilder vor der Öffentlichkeit geheim zu halten, um den Eindruck von Schwäche zu vermeiden. Prof. Wieland argumentiert: „Betrachtet man das vorab Gesagte, dann befinden sich Politiker aufgrund des Selektionseffektes – nur Personen mit bestimmten Eigenschaften werden Politiker – und aufgrund ihrer Arbeitsweise bzw. ihrer Arbeitssituationen weitgehend außerhalb des Burnoutrisikos.“