Emotion als Politik oder Politik mit Emotion?

Es gibt in der Bevölkerung einen weit verbreiteten Wunsch nach einer Politik, die einzig und alleine rationalem Denken folgt. Die Forderung nach mehr „Experten“ in der Politik kommt aus dieser Ecke. Wenn es allerdings konkret wird oder einen selbst betrifft, will man davon nichts mehr wissen. Der Wähler ist eben ein unberechenbares Wesen. In den USA gibt es für die Vertreter dieses paradoxen Denkens sogar einen Namen: Nimby. Das steht für Not In My Backyard und ist etwa das, was wir am Beispiel der Energiewende auch in Deutschland erleben: Windenergie, ja gerne, aber bitte keine Windräder oder Hochspannungsmasten in meiner Nähe!

Nun ist es in einer Demokratie das gute Recht jedes Einzelnen, sich auch aus egoistischen Motiven heraus zusammenzuschließen und den Versuch zu unternehmen, auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss zu nehmen. Und ja, wenn dieses Anliegen Erfolg hat, kommen manchmal Ergebnisse dabei heraus, die man objektiv und mit etwas Distanz betrachtet als unglücklich, negativ oder gar falsch ansehen kann. Die Schweizer Volksabstimmungen zum Bau von Moscheen oder zur Zuwanderung eignen sich als gute Beispiele. Dort hatte die Emotion, das Bauchgefühl Vorfahrt vor der Ratio, vor den Argumenten. Doch was heißt das nun für die Politik?

Unterschiedliche Politiker finden unterschiedliche Antworten darauf. Die einfachste – aber komplett aus der Zeit gefallene – Antwort ist die, dass man an diesen und anderen Beispielen ja sehen könne, dass Bürgerbeteiligung gefährlich ist. Zumal es nun auch wirklich nicht so ist, dass Parlamente ohne die Möglichkeit des Zugriffs durch die Bürger nur gute Entscheidungen treffen würden. Die zweite Antwortoption ist die, eine Politik zu betreiben, die dem Volk vermeintlich nach dem Mund redet. Und diese halte ich persönlich sogar für noch gefährlicher.

Keine Frage: In einer Demokratie rächt es sich, wenn eine Regierung auf Dauer Politik gegen den Volkswillen macht. Wenn Politik sich aber nur noch als ausführende Gewalt einer Wählergruppe sieht und deren Meinung übernimmt, ohne sie inhaltlich zu prüfen, einzuordnen und zu hinterfragen, werden maßgebliche Grundlagen unserer offenen und demokratischen Gesellschaft in Frage gestellt. In Zeiten einer internationalen Einbindung Deutschlands müssen beispielsweise Probleme wie die Euro-Rettung im Kontext diskutiert werden. Die Unzufriedenheit der deutschen Bevölkerung, die sich in Umfragen wiederspiegelt, in denen ein großer Teil sich die D-Mark wieder wünscht, muss in diese Beratungen mit einfließen. Sie dürfen diese aber nicht dominieren, wenn zu vermuten ist, dass der vordergründige Wunsch nicht der Austritt aus dem Euro, sondern vielmehr die Sicherung der wirtschaftlichen Verhältnisse ist.

In solch einem Fall kommt eine der wichtigsten Funktionen der Parteien und ihrer Vertreter zum Tragen: Die Sichtbarmachung von Argumenten und die Vermittlung von Politik. Anders gesagt: Den Bürgern muss deutlich werden, dass ihre Gedanken in der Debatte eine Rolle gespielt haben und Politiker müssen sich dann auch die Mühe machen, gerade strittige Entscheidungen in ihrem Zustandekommen umfassend zu erklären. Wissenschaftliche Studien haben übrigens gezeigt, dass etwa zwei Drittel der (Un-)Zufriedenheit mit dem politischen System sich aus einem sauberen Prozess und nur ein Drittel aus dem richtigen Ergebnis ableiten. Wer gehört wird, kann also durchaus auch akzeptieren, dass nicht in seinem Sinne entschieden wird.

Das Problem unserer heutigen Zeit ist, dass man dieses Idealbild nur selten findet. Um bei der Euro-Rettung zu bleiben: Die Verweigerung der Kanzlerin, jeden Schritt umfassend zu erklären und sich genug Zeit für saubere demokratische Prozesse zu nehmen, gibt vielen Bürgern das Gefühl, dass etwas vertuscht werden soll. Und genau dieses Gefühl ist die Basis dafür, dass beispielsweise eine Partei wie die Alternative für Deutschland (AfD) überhaupt entstehen konnte. Sie steht laut eigenen Angaben für eine Politik des „gesunden Menschenverstandes“, was trotz der zahlreichen Professoren in ihren Reihen nur eine Umschreibung für unwissenschaftliches Bauchgefühl ist. Und sie ist damit Ausgeburt mangelnden Fingerspitzengefühls, mangelnder Emotionalität der etablierten Kräfte. Aber sie ist eben auch das beste Beispiel dafür, was passiert, wenn Emotion die Politik bestimmt.

Je komplizierter politische Entscheidungsprozesse in einer globalisierten Welt werden, desto mehr muss sich Politik darum bemühen, diese transparent zu machen, Argumente öffentlich abzuwägen, auf kritische Stimmen einzugehen, ohne ihnen gleich nachzugeben im Kampf um Wählerstimmen. Nur Politik, die sich in die Karten schauen lässt und mit offenem Visier den Diskurs mit den Bürgern sucht, ist vertrauenswürdige Politik. Wer anstatt dessen einfach „durchregiert“ befördert die Sehnsucht der Bürger nach einfachen Lösungen und anderen Politikern – und wird dann andere Politiker mit einfachen Lösungen bekommen. Und die waren schon immer in der Geschichte brandgefährlich.