Der Shitstorm als Hetzmasse

Wie wir den Rechtstaat bei Facebook und Twitter aus den Augen verlieren

Vor nichts schreckten die User der Social Media Kanäle zurück, als es um die Urteilssprechung im Fall Edathy ging. Seitdem der Shitstorm für jeden Politiker der am meisten gefürchtete Stolperstein in einer politischen Karriere ist, bilden die Anschuldigen gegen Edathy wohl die Spitze bisher im Social Web beobachteter Empörung. Woher kommt diese Radikalität der Shitstorms, in denen anscheinend alle Prinzipien des Rechtstaates außer Kraft gesetzt werden?

Die Masse und Macht des Shitstorms

Als Elias Canetti 1960 sein Buch Masse und Macht veröffentlichte, konnte er noch keine Vorstellung davon haben, was das Social Web einmal sein könnte. Umso erstaunlicher ist es, dass seine Beobachtungen menschlicher Massen das Verhalten der Internetnutzer so treffend beschreibt. Eine Spielart von Canettis Beschreibungen ist dabei die Hetzmasse. Als Hetzmasse versteht er eine Masse, die es darauf abzielt zu töten. An diesem Mord will jeder teilhaben. Jeder, der sich in Reichweite befindet, schlägt zu. Die Masse an Schlägern wächst so rasant an, weil niemand mit Sanktionen zu rechnen hat. Aus der Masse heraus schlägt es sich nahezu anonym und damit gefahrlos. Dabei sind diese Schläge besonders dann intensiv, wenn es sich bei dem Opfer und jemand vormalig Mächtiges handelt.

Ausnahmslos lässt sich diese Beschreibung auf die viralen Shitstorms übertragen. Virtuelle Hetzmassen, die sich gegen Politiker richten, sind besonders intensiv und auf den politischen Tod der Personen aus. Es gibt genügend Beispiele für Massen im Social Web, die auf einen solchen politischen Mord hinarbeiteten. Schaut man auf die bekanntesten Shitstorms gegen Politiker der vergangenen Jahre, sind die drei Fälle Guttenberg, Wulff und der bereits erwähnte gegen Edathy augenscheinlich. Alle drei Fälle eint, dass die im Internet verfassten Vorverurteilungen keinen Halt vor den privatesten Lebensbereichen der Akteure machten und die  Vorverurteilungen in ihrem Ausmaß keine Grenzen kannten.

Die Skupellosigkeit der digitalen Hetzmasse

Wie skrupellos die hinter  einem Hashtag vereinten Massen an Social-Media-Usern dabei vorgehen, zeigt vor allem der Umgang mit der Person Sebastian Edathys. Mit dem im Raum stehenden Vorwurf des Kaufs von Kinderpornographie berührt dieser Skandal ein hochproblematisches und völlig zu Recht maximal sensibles Thema.

Gleichwohl sind die Urteile auf Twitter und Facebook erschreckend: In der Hölle solle er schmoren, sofort kastriert werden und dann gefälligst in ein Arbeitslager geschickt werden. Natürlich fehlte auch die Forderung zur Wiedereinführung der Todesstrafe an dieser Stelle nicht. Die Unschuldsvermutung ist hier nur eines der rechtstaatlichen Prinzipien, die hierbei völlig irrelevant zu  werden scheinen.
Ist es endgültig Zeit, Hoffnungen in einen möglichen aufklärerischen Charakter des Internets zu verlieren? Nein, werden diejenigen sagen, die die Arabellion vor Augen haben und darauf verwiesen, wie hier mit Hilfe von Social Media politische Umwälzungen erreicht werden konnten. Sehr richtig, ich stimme zu, das Internet lässt eine größere Anzahl von Menschen sprechfähig werden und ermöglicht diesen sich als eine Art Gemeinschaft zu erkennen. Also doch ein Ansatz von demokratischem Potential im Internet. Doch identifi ziert sich der Staat, dessen Bürger Edathys Hinrichtung fordern, eben nicht nur durch Demokratie sondern auch durch das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Nicht nur die Mehrheit entscheidet über den Verlauf der Dinge, auch der Schutz des Einzelnen ist ein grundlegendes Prinzip. Für letzteres scheint in den Portalen Facebook und Twitter kein Platz zu sein. Zumindest begraben Hashtags, die sich wie hier als Hetzmassen in Canettis Sinne entwickeln, die Prinzipien des Rechtstaats.

Radikalität in 140 Zeichen – neu nutzen!

Die Ursache ist offensichtlich: Will man ein Urteil sprechen, provoziert die Beschränkung auf 140 Zeichen Radikalität. Differenzierte Urteil lassen sich in dieser Form nicht formulieren. Doch eine Kritik des Formates kann nicht die Lösung sein. Schließlich sind es diese Formate, die das Neue und die positiven Effekte von Social-Media-Kommunikation ausmachen. Es gilt deshalb zu fragen, ob wir das Social Web lediglich zur (Be-)Wertung und Urteilsverkündung nutzen sollten. Wollen wir uns dieser blinden Hetzmasse so einfach anschließen?
Viel besser als Verurteilungen lassen sich in 140 Zeichen gute Fragen formulieren. Zum Beispiel so: Wollt ihr den Rechtstaat wirklich so einfach aufgeben? #shitstorm