Von der Pionierbewegung zum Jahrhundertprojekt – Gesellschaftlicher Wandel am Beispiel der Energiewende

Die als Energiewende bezeichnete Transformation von einer auf fossilen Energieträgern hin zu einer auf erneuerbaren Energien basierenden Energieversorgung ist ein Jahrhundertprojekt. Die Öffentlichkeit – wobei diese sowohl eine breite Öffentlichkeit von Bürgerinnen und Bürgern als auch organisierte Interessengruppen umfasst – hat im Politikfeld der Energiepolitik seit jeher eine entscheidende Rolle gespielt. Die Pioniere und Vordenker der Bewegung waren Bürgerinitiativen und einzelne Personen, die dazu beitrugen, dass sich die Leitidee nach und nach den Weg bahnte.

Energiepolitische Themen sorgten dafür, dass sich Anfang der 80er Jahre eine neue Partei gründete und ebenso, dass diese Partei Jahrzehnte später ihren ersten Ministerpräsidenten stellte. Energiepolitische Erwägungen sorgten dafür, dass Bundesministerien umstrukturiert wurden und die Energiepolitik im politischen Mehrebenensystem in den letzten Jahren überproportional an Bedeutung gewonnen hat. Die Erklärung hierfür ist eine vergleichsweise einfache: Die Energiewende ist ein Projekt, welches alle Lebensbereiche betrifft: Neben der Stromversorgung die Mobilität und Forschung, aber eben auch Aspekte der Generationengerechtigkeit oder Entwicklungszusammenarbeit. Kurz: Die Energiewende ist omnipräsent. Sie ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung – dies impliziert jedoch zugleich, dass sie, mehr noch als andere Politikfelder, ohne gesamtgesellschaftliche Akzeptanz nicht gedacht werden kann. Diese Akzeptanz ist historisch gewachsen, zugleich aber aufgrund der zunehmenden Komplexität des Politikfeldes gefährdet.

Das Trägheitsprinzip des gesellschaftlichen Wandels

Wie deutlich der Wandel stattgefunden hat, lässt sich mit einem Blick in die Vergangenheit aufzeigen. Mehr als 30 Jahre liegt inzwischen die Inbetriebnahme von Growian, der „Großen Windenergieanlage“ zurück. Zur Zeit ihrer Errichtung die größte Windenergieanlage der Welt, wurde wenige Jahre später der Betrieb aufgrund technischer Probleme eingestellt. Nicht alle waren mit diesem Ergebnis unzufrieden: der Vorstand eines großen Energieversorgungsunternehmens führte auf einer Hauptversammlung aus, man bräuchte Growian, um zu beweisen, „dass Growian so etwas wie ein pädagogisches Modell sei, um Kernkraftgegner zum wahren Glauben zu bekehren“. Das Scheitern war abzusehen: Es war, so beschrieb es die Zeit, „als hätte man Otto Lilienthal nach seinen ersten Flugversuchen mit dem Bau eines Überschalljets beauftragt“. Es war eben vornehmlich ein Projekt, um der Öffentlichkeit die Grenzen der erneuerbaren Energien aufzuzeigen, da längst die Bedeutung ersterer erkannt wurde. Langfristig überzeugen konnte der Versuch die Öffentlichkeit jedoch nicht.

Doch erst das Unglück von Fukushima im Jahr 2011 vermochte es, den entscheidenden Schritt zu einer Abkehr von der Atomenergie zu initiieren. Zwar gab es bereits vor dem Reaktorunfall eine solide Basis, die einen Umstieg befürwortete; auch ein Atomausstieg wurde bereits beschlossen, anschließend jedoch wieder zurückgenommen. Direkt nach dem Unglück zeigten Umfragen jedoch einen deutlichen Rückgang der Kernkraftbefürworter, der schließlich zu einem Umdenken auch in der schwarz-gelben Bundesregierung führte. Vielleicht war es letztlich der zwanglose Zwang des besseren Arguments, der überzeugt hat. Dass sich an der Sicherheit der Kernkraftwerke durch das Unglück faktisch nichts geändert hat, deutet jedoch auf auch einen interessanten Nebenaspekt hin – nämlich jenen der irrationalen Meinungsfindung, der der öffentlichen Meinung teilweise unterliegt.

Ein Projekt als gesamtgesellschaftliche Herausforderung

Der Weg von Growian bis zur Gegenwart verdeutlicht einmal mehr, dass die lex prima Newtons – das Trägheitsprinzip – auch auf den gesellschaftlichen Wandel übertragbar ist. Er zeigt jedoch nicht nur, dass gesellschaftlicher Wandel langsam vonstattengeht, sondern eben auch, welche bedeutende Rolle der Öffentlichkeit bei der Hinterfragung tradierter Auffassungen zukommt. Nicht ohne Grund schaut die Welt bei der Energiewende nach Deutschland – einem hochindustrialisierten Land, das sich auf den Weg gemacht hat, seine Energieversorgung von Grund auf zu verändern. Mehr als 370.000 Beschäftigte zählt die Branche insgesamt. Die Beantwortung von Energiefragen, national wie global, wird inzwischen als eine der zentralen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anerkannt. Es zeigt sich aber auch, dass ein gesellschaftlicher Konsens hinsichtlich der Verständigung auf ein Ziel nicht bedeutet, dass unweigerlich die Wahl der Mittel festgeschrieben ist oder der einmal getroffene Konsens nicht aufgebrochen werden kann.

Fortbestehende Akzeptanz als zentrale Herausforderung

Ganz im Gegenteil: ohne die Bedeutung zu hinterfragen, liegt die eigentliche Herausforderung nicht darin, ein gesellschaftliches Umdenken zu erreichen. Inzwischen ist die Befürwortung und Akzeptanz des Ausbaus überwältigend: Je nach Umfrage sind mehr als 90 Prozent für den weiteren Ausbau erneuerbarer Energien. Das Projekt Energiewende muss nun zeigen, dass die ambitionierten Ziele umzusetzen sind. Es besteht ein in seiner Wirkung nicht zu unterschätzender Rechtfertigungsdruck.

Das bedeutet insbesondere, die Zieltrias aus Klima- und Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit umzusetzen. Und auch dabei wird der Öffentlichkeit eine entscheidende Rolle zukommen. Nachdem anfangs vor allem eine grundsätzliche Akzeptanz im Vordergrund stand, wird es zukünftig vor allem darum gehen, allgemeinverträgliche Lösungen für spezifische Probleme zu finden. Während aus einer rein technischen Perspektive eine vollständig auf erneuerbaren Energien basierende Energieversorgung bereits 2030 für möglich erachtet wird, ist das Jahr 2050 als realistischer einzuschätzen. Wie schnell das Ziel erreicht wird, ist davon abhängig, wie sehr die Öffentlichkeit diesen Wunsch äußert und wie sehr sie bereit ist, existierende Probleme vor dem Hintergrund langfristiger Ziele zu akzeptieren bereit ist.

Zwei Elementen wird dabei zukünftig eine besondere Rolle zukommen: Zum einen kommt es zu einer zunehmenden Komplexität des Systems. Während eine Förderung mittels Einspeisevergütung noch durchaus nachvollziehbar ist, führt die Weiterentwicklung der notwendigen Verordnungen und Gesetze dazu, dass negative Börsenstrompreise, Intradayhandel oder das Demand-Side-Management den Komplexitätsgrad steigern. Dass es hier nicht zu einer Kapitulation vor der Komplexität kommt, ist für die Akzeptanz von grundlegender Bedeutung.

Oftmals wird als Allheilmittel nicht nur für die zunehmende Komplexität die Bürgerbeteiligung gesehen. Vor dem Hintergrund der Ursprünge und auch aus demokratietheoretischen Beweggründen ist dies durchaus unterstützenswert; doch auch hier lauern Risiken. Gegenwärtige Projekte wie die geplante Einführung eines Primats der Erdverkabelung entsprechen einer Forderung, die lange von Bürgerinitiativen aufrechterhalten wurde. Doch es zeigt sich bereits, dass nicht ein Wille der Öffentlichkeit besteht, sondern sich die Positionen durchaus entgegenstehen. Hier einen Ausgleich zu finden und damit die Ziele der Energiewende mit einer hohen Akzeptanz zu verbinden ist unabdingbar, um eine der größten Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen.