die entdeckung der sportpolitik: von der verbandlichen autonomie zum politikfeld sport

Nur wenige Bereiche des öffentlichen Interesses unterlagen in den vergangenen Jahren einem derart weitreichenden Wandel wie der Sport. Aus der einstmals „schönsten Nebensache der Welt“, die weitgehend im Rahmen privater, autonomer Verbandsregulierung gesteuert wurde, ist heute ein gesamtgesellschaftliches Ereignis geworden, das in die unterschiedlichsten Bereiche hineinwirkt und den unterschiedlichsten Einflüssen – von Politik, Medien und Kultur bis hin zur Wirtschaft − unterliegt. Vor allem die enorme Aufmerksamkeit, die der Fußball erzielt, hat dazu geführt, dass sich mittlerweile ein eigenes Politikfeld „Sport“ herausgebildet hat, auf dessen Terrain eine immer größere Anzahl von Akteuren zunehmend vielschichtigere Interessen verfolgt.

Ein Gastbeitrag von Dr. Jürgen Mittag

Definitorische Annäherungen

Mit dem Begriff „Sport“ ist eine beträchtliche Bandbreite an Ausprägungen und Angebotsformen bewegungsbezogener Aktivität angesprochen. Ausgehend von den Aktivitäten des Europarats, der bereits im Jahre 1954 den Sport als integralen Bestandteil eines europäischen Kulturabkommens betrachtete, subsumiert die Europäische Kommission unter Sport „jegliche Form körperlicher Ertüchtigung, die innerhalb oder außerhalb von Vereinen betrieben wird, um die körperliche und seelische Verfassung zu verbessern, zwischenmenschliche Beziehungen zu entwickeln oder ergebnisorientierte Wettkämpfe auf allen Ebenen zu bestreiten.“ Diese eher am Breiten-, denn am Spitzensport orientierte Definition ist hilfreich, vernachlässigt aber den Bereich des vom Zuschauer wahrgenommenen Spitzensports in den Medien oder Stadien.

Sport im Wandel

Sowohl der aktiv betriebene Bewegungssport, als auch der passiv rezipierte Zuschauersport haben an Bedeutung gewonnen. Infolge der medialen und ökonomischen Aufwertung zahlreicher Individual- und Mannschaftssportarten – namentlich der europäischen „Leitsportart“ Fußball –, aber auch aufgrund der wachsenden gesundheitlichen Bedeutung von Bewegung, hat Sport längst den Raum eines beschaulichen Freizeitvergnügens verlassen. Sport ist ein globales Massenphänomen, das nicht nur während der Fußball-Weltmeisterschaften die Bevölkerung in einen fröhlich- rauschhaften Erregungszustand versetzt, sondern auch im Alltagsleben einen festen Platz mit beträchtlichem Mobilisierungspotenzial einnimmt. Der Sport regt zur Kommunikation an, er dient der Identitätsstiftung, fördert die Integration und schafft Arbeitsplätze – er fungiert sogar als Instrument der Friedens- und Entwicklungspolitik. Zugleich stellt der Sport aber auch einen milliardenschweren Wirtschaftsfaktor dar, dessen Wachstumspotenzial nahezu unbegrenzt scheint.

Die fortschreitende Verflechtung des Sports mit anderen gesellschaftlichen Bereichen hat dazu geführt, dass es zu einem immer stärkeren Einwirken der unterschiedlichsen Interessen auf die Ausgestaltung des Sports und seiner Rahmenbedingungen kommt. Wo etwa im Fußball jahrelang der DFB weitgehend autonom sportbezogene Entscheidungen traf, tummeln sich heute die Deutsche Fußball Liga und Profi-Klubs, Spielerberater und Verwertungsagenturen sowie Gerichte und – in zunehmendem Maße – staatliche Akteure. Der Sport bleibt dabei längst nicht mehr nur auf nationale Strukturen begrenzt, sondern entfaltet auch seine transnationale Dimension. In Europa hat die Berücksichtigung des Sports im EUVertragswerk von Lissabon, aber auch die wachsende sportpolitische Intervention im Zuge der Binnenmarktrechtsetzung – für die breite Öffentlichkeit wohl am deutlichsten sichtbar geworden im so genannten Bosman-Urteil – dazu geführt, dass insbesondere der Profisport nicht länger mehr eine gewissermaßen extrakonstitutionelle Sonderrolle mit eigenen Regulierungsmechanismen beanspruchen kann. So hat unlängst die Europäische Kommission mit ihrem Weißbuch Sport eine Zusammenschau der bisherigen sportpolitischen Aktivitäten der Europäischen Union vorgenommen und zugleich einen vorsichtigen Ausblick auf eine künftige Positionierung zwischen der Autonomie des Sports und dem Gemeinschaftsrecht gewagt. Exemplarisch für die gegenwärtig noch dominierende zurückhaltende Ausbalancierung der 35 unterschiedlichen Interessen ist hier die Entscheidung, keine eindeutige Präferenz zwischen der Einzel- und der Zentralvermarktung bei der Vergabe von Medienrechten vorzunehmen.

Das Politikfeld „Sport“

Vor dem Hintergrund immer häufigerer sportbezogener Interventionen auf allen politischen Ebenen hat sich in den vergangenen Jahren zunehmend deutlicher die Herausbildung eines eigenen Politikfelds „Sport“ herauskristallisiert. Sicherlich ist zu konstatieren, dass auch in den vergangenen Jahrhunderten bereits zahlreiche sportbezogene Entscheidungen deutliche politische Implikationen hatten. Und es ist auch nicht zu vernachlässigen, dass der Sport seit jeher erhebliches Potenzial zur Instrumentalisierung bot: Von „Hitlers Olympioniken“ bis zum Wahlkampfeinsatz des Fußballs bei Bundestagswahlen können hier zahlreiche Beispiele angeführt werden. Aber erst mit der Ökonomisierung und Medialisierung des Sports in den beiden letzten Dekaden – und der damit einhergehenden Mobilisierung und Interessendifferenzierung – zeichnet sich die Entstehung eines eigenen Politikfelds ab. Sport stellt damit nicht länger mehr nur ein Tätigkeitssystem dar, das primär durch sportbezogene Regeln (Wettbewerbsregeln) gestaltet wird, sondern durch die Verflechtung mit anderen Politikfeldern, Interessen und Akteuren auch zunehmend ein Konfliktfeld, in dem es um die Durchsetzung von Interessen sowie die Herstellung von (verbindlichen) Entscheidungen geht.

Der Forschungsbereich „Sportpolitik“

Seitens der Wissenschaft ist den politischen Veränderungen im Sport bislang nur begrenzte Aufmerksamkeit beigemessen worden. Zwar finden sich in verstärktem Maße wissenschaftlichen Standards entsprechende Forschungsarbeiten, die einzelne Ereignisse, Sportarten oder Vereine untersuchen. Eine systematische Vermessung des Politikfelds Sports ist bislang jedoch namentlich seitens der deutschen Politikwissenschaft noch nicht vorgenommen worden, während etwa im angelsächsischen Raum dieser Forschungszweig bereits eingehender bearbeitet wurde. Dies dokumentieren neben zahlreichen Einzelstudien unter anderem auch akademische Journals wie die inzwischen im zehnten Jahrgang erscheinende Zeitschrift „Soccer and Society“.

Aufgabe künftiger Forschung muss es vor diesem Hintergrund sein, sowohl in theoretisch-konzeptioneller als auch in empirisch-analytischer Hinsicht eine verstärkte Annäherung an den Themenbereich Sport vorzunehmen. Sport sollte dabei weder länger als Bereich verbandlicher Selbstregulierung noch als ein Nebenschauplatz staatlicher Politik verstanden werden. Gerade mit Blick auf den letztgenannten Bereich stellen sowohl die Untersuchung der finanziellen und ideellen Förderungsinstrumente staatlicher Akteure als auch die Analyse der Vorgaben und Ausgestaltung gesetzlicher Rahmenbedingungen zentrale Forschungsaufgaben dar.

In Anlehnung an grundlegende Zugänge der Politikwissenschaft erscheint es hilfreich, auch für den Bereich der Sportpolitik zwischen den drei analytischen Dimensionen polity (Institutionen- oder Normengefüge), politics (Politikgestaltung, Willensbildungs- und Durchsetzungsprozesse) sowie policies (Politikfelder) zu differenzieren. Der Sport stellt dabei insofern eine Besonderheit dar, als dass er einerseits ein eigenes Politikfeld bildet und andererseits, aufgrund seiner Entscheidungsstrukturen, selbst ein politisches System mit je eigenen analytischen Dimensionen darstellt. Während die Handlungsfelder der Sportpolitik (policies), also etwa Doping, Vermarktung oder Gesundheit, sowohl die Politik als auch das Verbandswesen mit ähnlichen Herausforderungen konfrontieren, offenbart sich in den Dimensionen polity und politics ein stärker dualistisches System. Die Instrumente und Mechanismen sportpolitischer Aktivität seitens der staatlichen Akteure unterscheiden sich deutlich von denjenigen der verbandlichen und weiterer privater Akteure. Das Ringen um Interessen und Entscheidungen stellt hingegen die gemeinsame Schnittmenge dar. In diesem Sinne bleibt es auf absehbare Zeit spannend, wissenschaftlich zu untersuchen, ob die Analysen zum Politikfeld Sport eher einen konsensorientierten „Doppelpass“ zwischen Sport und Politik ausmachen oder ob die weitere Ausgestaltung dieses Bereichs eher konfliktgeladene und antagonistische Auseinandersetzungen oder gar – um im Bild zu bleiben – ein „Foulspiel“ zwischen den Akteuren zur Folge haben wird.

Dr. Jürgen Mittag

studierte Politikwissenschaft, Mittlere und Neuere Geschichte und Germanistik in Köln, Bonn und Oxford. Seit 2003 ist er Geschäftsführer des Instituts für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum und blickt auf verschiedene Forschungsaufenthalte und Gastprofessuren, u.a. in Florenz (European University Institute), Brüssel (TEPSA), Paris (Sciences Po) und Istanbul (Bosphorus University) zurück.