drei fragen an stefan keßler

Herr Keßler, die Menschenrechtsverletzungen in China sind seit Jahrzehnten international bekannt. Warum wurde dennoch die Situation in China, gerade im Vorfeld der Olympischen Spiele 2008 in Peking, derart kritisch diskutiert und inwiefern hatte dies Einfluss auf die Arbeit von Amnesty International?

Die Olympischen Spiele lenken in einem besonderen Maße die Aufmerksamkeit auf die Situation im jeweiligen Gastland. Da die olympische Idee auch die Förderung des friedlichen Zusammenlebens der Menschen enthält, ist es unabdingbar, dass in diesem Kontext auch die Menschenrechtslage kritisch beleuchtet wird. Hinzu kommt bei der VR China, dass gerade im Vorfeld der Olympischen Spiele landesweit ein Anstieg der Repressionen sowie striktere Kontrollmaßnahmen gegenüber Menschenrechtsverteidigerinnen und –verteidigern, Angehörigen von Religionsgemeinschaften, Rechtsanwälten und Journalisten festzustellen waren. Im Anschluss an Proteste und Unruhen, die im März 2008 in Lhasa (Tibet) begannen, nahmen die Behörden mehr als 1.000 Personen fest, von denen Hunderte zum Jahresende weiterhin in Gewahrsam oder „verschwunden“ waren. Eine Reihe gewaltsamer Zwischenfälle mit angeblich terroristischem Hintergrund wurde benutzt, um massiv gegen die uigurische Bevölkerung in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang vorzugehen. Folter und andere Formen der Misshandlung waren weit verbreitet. Diese Realität stand in einem so krassen Gegensatz, sowohl zur olympischen Idee wie zur offiziellen Propaganda, dass eine kritische Diskussion geradezu herausgefordert wurde. Der Arbeit von Amnesty International hat diese Diskussion Nutzen gebracht, weil die menschenrechtlichen Anliegen zur VR China vorgetragen und bekannt gemacht werden konnten. Spannend und fruchtbar war auch, dass die Verbindung von Sport und Menschenrechten augenfällig wurde, sodass auch Menschen, die sich eher für Sport als für Menschenrechtspolitik interessieren, bereit waren, sich für die Opfer von Menschenrechtsverletzungen zu engagieren.

Warum wurde, Ihrer Meinung nach, die internationale Diskussion um die Menschenrechtssituation in China nach dem Abschluss der Olympischen Spiele so schnell beendet?

 

Das gilt für die mediale Öffentlichkeit, nicht aber für die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen. Mit dem Abschluss der Olympischen Spiele schwenkte der „Scheinwerfer“ der Medien auf andere Teile der Welt und damit stand auch die Menschenrechtslage in China nicht mehr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im politischen Rahmen, bei der Lobbyarbeit ging und geht die Diskussion aber weiter.

Wie beurteilen Sie die heutige Menschenrechtssituation in China? Hat sie sich gebessert und wie steht das kommunistische Regime Ihrer Arbeit gegenüber?

Die chinesischen Behörden haben ihre Beschneidung der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit weiter intensiviert, was zum Teil auf die Brisanz einer Reihe bedeutender Jubiläen zurückzuführen war, darunter der 60. Jahrestag der Gründung der Volksrepublik China am 1. Oktober 2009. Menschenrechtsverteidiger wurden inhaftiert, strafrechtlich verfolgt, unter Hausarrest gestellt oder fielen dem „Verschwindenlassen“ zum Opfer. Die allumfassenden Kontrollen des Internets und der Medien hatten weiterhin Bestand. Auch 2009 kam es zu Massenverhaftungen in der Autonomen Uigurischen Region Xinjiang. Eine Untersuchung der Menschenrechtslage in tibetischen Siedlungsgebieten durch unabhängige Beobachter wurde unterbunden. Die Behörden unterwarfen den Handlungsspielraum der Religionsausübung nach wie vor einer rigiden Kontrolle, was bedeutete, dass katholische und protestantische Gemeindemitglieder, die ihren Glauben außerhalb des staatlich sanktionierten Rahmens praktizierten, drangsaliert, inhaftiert und in manchen Fällen auch zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Das drakonische und systematische Vorgehen gegen die spirituelle Bewegung Falun Gong wurde auch im zehnten Jahr seit ihrem Beginn fortgesetzt.

Eine Verbesserung der Menschenrechtslage ist also keineswegs eingetreten und die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International bleibt in China schwierig. Die Opfer von Menschenrechtsverletzungen sind somit weiterhin dringend auf die solidarische Unterstützung der Weltöffentlichkeit und den Protest – auch aus den Reihen des Sports(!) – angewiesen.

Stefan Keßler

ist ehrenamtlicher Vorstandssprecher von Amnesty International Deutschland.