Grußwort

Mindestens sieben Mal machen die Wähler in diesem Jahr ein Kreuzchen, ein echtes Superwahljahr, das fast den Charakter der amerikanischen midtermelections hat. Von Rügen bis Freiburg, von Pirmasens bis Berlin, in vielen Regionen sind 2011 die Wähler gefragt, bei Landtags- und Kommunalwahlen. Ein Ergebnis kann man schon jetzt sicher prognostizieren: In den Parlamenten der Republik wird es bunter zugehen.

Nach Jahrzehnten der Drei-Parteien-Welt mit hren kalkulierbaren Konstellationen sind nun Fünf-Parteien-Parlamente mit unkalkulierbaren Koalitionsfindungsprozessen möglich. Fast schockiert reagierten Parteien und politische Öffentlichkeit auf diese neuen Formierungen, die Sondierungen, Verhandlungen und Mehrheitsbildungsprozesse werden komplizierter und multipolar. Glichen Verhandlungen zwischen zwei Parteien eher den ritualisierten Tarifverhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern, so macht die Existenz mehrerer Parteien Wahlkämpfe, die Regierungsbildung und auch die Parlamentsarbeit unübersichtlicher und nur schwer steuerbar. Doch der Wähler ist der Souverän, und seine Entscheidungen beweisen nach jeder Wahl, dass Regeln und Trends nur eine kurze Halbwertszeit haben. Da können die handelnden Politiker die Politikwissenschaft und die Medien auch noch so massiv glauben machen, in den Wahlentscheidungen der letzten Jahre sei ein tiefer Sinn oder gar ein mittelfristig gültiger Trend verborgen, das Leben, das heißt die jeweilige Wahl belehrt alle eines Besseren. Instabile Verhältnisse prognostizierten viele für Nordrhein-Westfalen, nachdem dort 2010 eine rot-grüne Landesregierung zustande kam, die auf das Wohlwollen der Linken angewiesen ist. Inzwischen arbeitet die Regierung stabiler als viele klassische Koalitionen vor ihr. Nicht zuletzt die Furcht vor überraschenden Wahlergebnissen hält CDU, SPD, FDP und Linke von der Selbstauflösung des Landtags und folgenden Neuwahlen ab. Mit der Wahl in Hamburg im Februar 2011 meierte der Wähler alle Propheten ab, die im schwarz grünen Experiment ein Modell für Bund und andere Bundesländer gesehen hatten. Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt stimmte der Wähler für die Fortsetzung einer Großen Koalition, ein Modell, das 2011 nicht gerade als chic gilt. Und in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ist es zu Ergebnissen gekommen, die die vorlauten politischen Trendscouts noch vor wenigen Monaten für Gehirngespinste gehalten hätten. Die Wähler spielen die Möglichkeiten des Mehrparteiensystems aus, ohne die jeweiligen Mischfarben selbst direkt mitgestalten zu können. Gewählt werden Parteien, nicht Koalitionen, und wehe, eine Partei legt sich in ihren Optionen vor einer Wahl zu deutlich fest. Das demonstrative Ausschließen von Koalitionsoptionen gilt nach SPD-Ypsilanti in Hessen und FDP-Papke in Nordrhein- Westfalen als unprofessionell und naiv. Aus all dem könnte man auf einen neuen Frühling der deutschen Parteien schließen. Doch auf den ersten Blick scheint die Situation paradox: Auf der einen Seite gibt es immer mehr Parteien, die sich aus der Masse der Splitterparteien herausheben. Neben den etablierten Parteien konnten in den vergangenen Jahren die Freien Wähler, die Piratenpartei, die Familienpartei oder auch die NPD Achtungserfolge um die drei Prozent der Wählerstimmen verbuchen. Auf der anderen Seite sinkt das Ansehen der Parteien erheblich. Bis auf kleine Ausnahmen verlieren alle Parteien Mitglieder in erheblichem Ausmaß, in den jeweiligen Diasporagebieten sind sogar die sogenannten „Volksparteien“ nicht mehr in der Lage, die politische Infrastruktur aufrechtzuerhalten, die für die Rekrutierung ihrer Funktionäre und Aktivisten notwendig ist. Der neue Frühling der Parteien scheint so eher eine Scheinblüte, vielleicht sogar ein Krisenzeichen. Offensichtlich sind die etablierten Parteien nicht in der Lage, neue oder traditionelle Trends wahrzunehmen und aufzugreifen. Die Parteien scheinen ihr Heil eher im kuscheligen Mainstream rund um die gefühlte Mitte des politischen Spektrums zu suchen. Und die Furcht vor rüden Wahlentscheidungen und bösen Schlappen haben sie alle tief geprägt. Das Fünf-Parteien-System hat es auch mit sich gebracht, dass sich keiner richtig sicher fühlen kann. Jede der etablierten Parteien hat in den vergangenen Jahren tief in den Abgrund geschaut. Die Grünen waren bereits abgeschrieben, der FDP läutet in diesen Monaten das Sterbeglöcklein. Die SPD ist in ihrem Lager mit zwei Rivalen geschlagen und darf sich über Wahlergebnisse rund um die 30 Prozent schon heftig freuen. Die Union, der eine rechtskonservative Konkurrenz bisher erspart geblieben ist, bleibt dennoch in Bund und Ländern auf historischen Tiefständen, die Ereignisse im ehemaligen Stammland Baden-Württemberg und der Verlust politischer Relevanz in den deutschen Großstädten zeigen die Brutalität dieser Parteienkrise im konservativen Lager. Und die Linke, die unter Lafontaine, Bisky und Gysi unerschütterlich schien, pendelt zwischen herben Niederlagen im Westen und Scheinsiegen im Osten der Republik. Eine Partei, die da gebeutelte Splitterpartei, dort gefühlte Regierungspartei ist. Die Wähler behandeln ihre Parteien schlecht, die alten Bindungen scheinen perdu, Gunst und Verachtung wechseln rasend schnell. Eine Parteienkrise, die gleichzeitig aber viele Parteien zu neuen Chancen verhilft, dieser Widerspruch produziert viele Fragen, auf die sich dieser HAMMELSPRUNG mit Engagement und Neugier stürzt. Was bleibt von den Parteien, welche Gegenentwürfe gibt es und wie erfolgreich können die sein? Welche Konzepte von direkter Bürgerbeteiligung werden zur Zeit umgesetzt und erprobt und was bedeuten diese Erfahrungen für den Machtanspruch der Parteien? Wie reagieren die Parteien auf ihre Krise, mit welchen Mitteln versuchen sie, das verlorene Vertrauen und die fehlende Bindungskraft wiederherzustellen? Und nicht zuletzt, welche Entwicklungen gibt es eigentlich bei unseren Nachbarn, beispielsweise in Belgien oder den Niederlanden? Die leibhaftige Parteienkrise macht viele ratlos, gute Zeiten für Forscher, Journalisten und andere neugierige Zeitgenossen.

Stefan Raue

stellvertretender Politikchef des ZDF, 1958 geboren, nach Studium der Geschichte, Literaturwissenschaft und Philosophie in Freiburg und Bielefeld Volontariat bei WDR, WAZ und ran. Danach Reporter beim WDR, Chef vom Dienst bei RIAS TV in Berlin und Hauptabteilungsleiter Aktuelles und Nachrichten bei Deutsche Welle tv in Berlin. 1995 Wechsel zum ZDF als Schlussredakteur von heute journal, danach stv. Redaktionsleiter ZDF heute. Wird ab 1. November 2011 Chefredakteur für Fernsehen, Radio und Internet beim Mitteldeutschen Rundfunk in Leipzig.