macht oder vernunft? zur ethisierung der politik

Seit der globalen Finanzkrise – genauer gesagt: seit deren Debüt auf der ganz großen politischen Bühne im Jahr 2008 – ist der Begriff der Ethik gründlich entstaubt worden. Im Angesicht des Entsetzens über Ausmaß und Abgründe des Banken-Crashs wurde neben Forderungen nach neuen Kontrollorganen und Sicherheitsregelungen schnell auch der Ruf nach einer neuen Wirtschaftsethik laut – als hätte man schon damals geahnt, dass allein durch politische Debatten, Schuldzuweisungen und Schuldeingeständnisse, Stütz- und Notkäufe maroder Papiere und ganzer Banken sich das globale Finanzsystem nicht substanziell ändern würde.

Der Verweis auf die ethische Dimension wirkt angesichts der grotesken Größenordnung der finanziellen Schäden zunächst seltsam machtlos – kann die Rückkehr zu Werten, das tugendgeleitete Innehalten und Abwägen, die Besinnung auf ein Berufsethos, das ein gutes, maßvolles Leben im Auge behält, in den Zeiten entfesselter Finanzmärkte tatsächlich etwas bewegen?

Wohl kaum.

Und doch richteten zuerst die Business Schools vieler Universitäten Vortragsreihen, Studienprogramme, manchmal auch ganze Lehrstühle im Bereich „Ethik und Wirtschaft“ ein. Durch solche Maßnahmen im Umfeld der akademischen Ausbildung hat sich selbstverständlich noch nichts ändern können, mit spürbaren Effekten dürfte erst in einigen Jahren zu rechnen sein.
Dennoch gibt es eine Art „Ethik-Boom“, der möglicherweise sogar mit einer gewissen Nachhaltigkeit versehen ist und der auch den Bereich der Politikwissenschaft erreicht hat. Einen Beitrag geleistet haben hierzu auch verschiedene Krisenphänomene innerhalb politischer Systeme, zuvorderst sicher die regelmäßig aufscheinenden Veruntreuungs- und Begünstigungsaffären (wie etwa in Großbritannien), Ämterpatronage und Dynastiebildung (etwa in Brasilien oder Argentinien), der mehr oder weniger systematische Zugriff von corporate money auf politische Entscheidungen (etwa in den USA) oder der stets laut anschwellende Chor öffentlicher Erregung, wenn eine Erhöhung der Abgeordnetenbezüge diskutiert wird (überall).

Angesichts dieses Standardkatalogs unethischen Verhaltens in der Politik muten die deutschen Beiträge zur jüngeren Debatte geradezu exotisch an: hierzulande ging es zuletzt um Wahrheit (zu Guttenberg und andere) oder Liebe (von Boetticher). Eine solchermaßen akteursorientierte Debatte übersieht jedoch einige andere ethikbezogene Entwicklungen, die den Bereich der Politik durchdringen – dafür lassen sich entlang der drei klassischen Dimensionen policy, politics und polity zahlreiche Beispiele finden. Auf der Ebene der Inhalte spielten ethische Konflikte etwa bei der deutschen Geschichts- und Erinnerungspolitik eine Rolle. Dies ist jedoch längst nicht der einzige Politikbereich, in dem ethische Fragen eine zunehmend wichtigere Rolle einnehmen: Unlängst sind auch Umwelt- und Energiepolitik um eine ethische Dimension erweitert worden. Das verbindende Element ist hierbei die Rolle der Politik bei der langfristigen Zukunftsausrichtung der beiden Bereiche, die ethische Perspektive verschiebt den Blick von technologisch orientierten Fragen nach der „Machbarkeit“ auf die Suche nach „generationengerechten“ Lösungen.

Damit kommen Ansätze wie Tugend- und Gerechtigkeitsethik ins Spiel: Was müssen wir heute tun, damit unsere Nachkommen eine intakte Umwelt vorfinden, um ihre eigenen Lebensentwürfe verwirklichen zu können und nicht eingeengt von Knappheit und Selbstbeschränkung leben müssen?

So abstrakt, normativ und gemeinwohlorientiert dies klingen mag, im aktuellen Politikmanagement ist dieser Perspektivwechsel in einigen Fällen bereits spürbar. Der politische Entscheidungsprozess, der der multiplen Natur- und Technikkatastrophe von Fukushima nach- und dem Ausstieg aus der Kernenergie vorgelagert war, wurde von einer „Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung“ begleitet. Eine scheinbar technisch codierte Frage hat dadurch eine weiterreichende, gesamtgesellschaftliche Dimension erhalten – doch ist die politische Entscheidung tatsächlich auch unter Berücksichtigung ethischer Fragen zustande gekommen? Oder handelte es sich hier lediglich um eine typische Form einer außerparlamentarischen Expertise? Über die tatsächliche Arbeitsweise der Kommission ist bislang noch nicht genug bekannt, um hierzu eine qualifizierte Aussage tätigen zu können. Genau hier liegen also Ansatzpunkte zur Untersuchung eines „ethik-orientierten Politikmanagements“.

Auch auf der Prozessebene von Politik findet sich Ethik längst nicht mehr nur als Spurenelement – die eingangs genannten Beispiele sind allesamt dieser Teildimension zuzuordnen. Der bisherige Therapievorschlag zur Behandlung individuellen ethischen Fehlverhaltens war zumeist die Verabschiedung von Standards oder Kodizes im Sinne eines „Ethik-Managements“. Die ohnehin schon als fragwürdig einzustufende Verbindlichkeit solcher Selbstverpflichtungen wird von zwei Entwicklungen weiter unterhöhlt. Zum einen haben sich in den vergangenen Jahrzehnten dicht miteinander verwobene Netzwerke zwischen Politik, öffentlicher Verwaltung, Verbandswesen und Wirtschaft ausgebildet, die unethisches Verhalten gewissermaßen entpersonalisieren. Mit dem Blick auf die wachsende finanzielle Abhängigkeit des politischen Systems der USA spricht Lawrence Lessig an dieser Stelle von „institutioneller Korruption“ – in deren Folge sich das Wesen staatlicher Organisation verliert: „Republic, Lost“ lautet demgemäß der Titel seiner aktuellen Studie zum verkommenen Zustand der amerikanischen Demokratie. Ethik-Standards als Maximen, die das individuelle Handeln anleiten sollen, stehen gegen die Netzwerkstrukturen institutioneller Korruption von vornherein auf verlorenem Posten.

Allerdings scheinen in Zeiten digitaler Vernetzung die Herstellung von Transparenz und eine kollaborative Kontrolle „von unten“ durchaus geeignet, das politische Personal auf ein ethisches Handeln zu verpflichten. Hierzu braucht es jedoch den Zugriff auf Informationen über die Geschehnisse innerhalb und zwischen politischen Institutionen und Akteursnetzwerken – mit anderen Worten: benötigt werden sensible Daten über die tatsächlichen Abläufe im Politikprozess. Im globalen Maßstab führt WikiLeaks diese Bewegung an, wenngleich die radikalen Maßnahmen dieses Transparenz-Akteurs inzwischen selbst einer stärkeren Hinterfragung und größerer Verantwortlichkeit bedürfen. Auf Deutschland bezogen zeigen Plattformen wie „Guttenplag“ oder „Vroniplag“, dass Sousveillance – die „Überwachung von unten“ – ein besseres Mittel zur Gewährleistung „guter Praxis“ sein kann, als die abstrakte Setzung eines Regelsystems durch zentrale, aber zunehmend wirkungslose Steuerungsinstanzen.

An dieser Stelle ist der Weg zur polity-Dimension von Politik nicht weit – die Verfasstheit politischer Systeme bietet ebenfalls Ansatzpunkte für die Frage nach dem Stellenwert der Ethik für politikwissenschaftliche Auseinandersetzungen. Wenn ein funktionierendes Ethik-Management tatsächlich zu einer wichtigen Leistung innerhalb politischer Systeme wird, um Glaubwürdigkeit, Verantwortlichkeit und vielleicht sogar Legitimation und Nachhaltigkeit politischer Entscheidungen herzustellen und zu garantieren, dann muss der ethischen Dimension politischer Systeme grundsätzlich größere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Darüber hinaus lassen sich noch weitere Bestandteile von Demokratien einer „Ethik-Prüfung“ unterziehen – so hat etwa Jason Brennan eine Studie zur „Ethik des Wählens“ vorgelegt, in der er es für ethisch vertretbar, ja sogar wünschenswert hält, wenn ein Teil der Bürger nicht von seinem Wahlrecht Gebrauch machen würde. Fehlende Informationen zu gesellschaftlichen Problemen und mangelnde Identifikation mit dem politischen System führten zu einer Verschlechterung der Qualität bei der Auswahl des politischen Personals. Die Folgen seien schlechtere, ungerechtere, weniger haltbare Entscheidungen – insofern könne der Entzug politischer Beteiligungsrechte durchaus auch als ethisch vertretbar und sogar notwendig angesehen werden.

Sämtliche Beispiele und Überlegungen konvergieren in einer zentralen Fragestellung, mit der sich die Politikwissenschaft in der nächsten Zeit intensiv auseinandersetzen muss: wird Ethik als ein legitimes Mittel politischen Managements zur Vorbereitung und Herstellung „guter Entscheidungen“ eingesetzt oder droht die Gefahr, dass Ethik im politischen Prozess zum reinen Machtinstrument des handelnden Personals verkommt? Die in vielen Zusammenhängen zu beobachtende „Ethisierung der Politik“ ist demnach längst nicht per se ein Zeichen für eine wertgebundene, wohlbedachte, vernünftige Erweiterung politischer Kommunikations-, Organisations- und Entscheidungsprozesse – damit verbunden sein kann ebenso gut die Wahrnehmung ethischer Perspektiven und Diskussionen als Ressource im politischen Konkurrenzkampf.

Plakativ verkürzt könnte die zentrale Frage also lauten: Ist Ethik in der Politik eine Macht- oder eine Vernunft-Ressource?