stell dir vor, es herrscht wissenschaft und keiner schaut hin

Wir leben in einem Zeitalter rasanten wissenschaftlichen Fortschritts. Jeden Tag könnte eine bahnbrechende Entdeckung unser Zusammenleben fundamental verändern. Die wachsenden Möglichkeiten von Technik und Forschung sind jedoch nur eine Seite der Medaille – die damit einhergehende moralische Unsicherheit die andere. Weshalb wir nationale Ethikkommissionen brauchen und warum diese ins Parlament gehören.
Die Diskussion über gesellschaftlich-ethische Fragestellungen gehört eigentlich fest zum Kerngeschäft des Politikers. Vor allem im Gesetzgebungsprozess geht es dabei häufig um fundamentale Fragen des menschlichen Zusammenlebens: Ist es rechtens, ungeborenes Leben aufgrund von Erbschädigungen abzutöten? Dürfen wir dem Sterbewunsch von Patienten entsprechen? Kann eine verantwortungsvolle Gesellschaft weiter auf die Nutzung von Kernenergie setzen?

In jüngster Zeit lässt sich bei der politischen Bearbeitung solcher Themen – wie schon bei anderen Entscheidungsmaterien zuvor – jedoch ein zunehmender Trend beobachten: die Delegation an institutionalisierte Expertengremien. So wurde in der „Ethik-Kommission Sichere Energieversorgung“ der Bundesregierung neben Risikobewertung auch die ethische Dimension von Atomkraftnutzung diskutiert. Parallel dazu existieren bereits seit vielen Jahren dauerhafte Gremien wie der Deutsche Ethikrat, die Entscheidungsträger vor allem im Bereich der Biopolitik beraten wollen.

Diese Entwicklung ist beileibe nicht unumstritten geblieben. Beobachter wie der Kolumnist Georg Diez halten Ethikkommissionen bestenfalls für „Debattenzwischenlager“, die politische Entscheidungen hinausschieben, ohne selbst Antworten zu liefern. Mehr noch: Ethik ist heutzutage Privatsache. Kein sogenannter „Experte“ hat das Recht, uns vorzuschreiben was wir zu denken haben. Doch stimmt das wirklich? Woraus erwächst die politische Nachfrage nach professioneller Ethikberatung? Und welchen Mehrwert können wir durch Ethikkommissionen erwarten?

Was sollen wir tun? Moralische Herausforderungen und ethische Expertise

Die zentrale Funktion nationaler Ethikgremien ist die Senkung von moralischer Unsicherheit: Der rasante Fortschritt der Naturwissenschaften und sich daraus ergebenden Handlungsmöglichkeiten werfen Fragen auf, die traditionelle moralische Vorstellungen überfordern. Egal ob Klonierung, PID oder Kernenergie – es herrscht keinerlei Konsens darüber, wie wir mit Errungenschaften moderner Forschung umgehen sollen. Hinzu kommt, dass die Komplexität von wissenschaftlichen Entwicklungen selbst für Fachwissenschaftler kaum zu überblicken ist. Wer hätte die fundamentalen Konsequenzen und Nebenwirkungen der Kernspaltung für die Gesellschaft voraussehen können?
Das politische System scheint jedenfalls nicht das Fachwissen, die Kapazitäten und das Zeitvolumen zu besitzen, ethische Fragestellungen aus Technik und Forschung eigenständig zu bearbeiten. Die strukturelle Überforderung des Parlaments, der schnelllebige Politikbetrieb oder aber die Dominanz tagespolitischer Themen sind nur drei politikwissenschaftliche Schlagwörter, die diesen Sachverhalt eindeutig dokumentieren.

Nationale Ethikkommissionen sind aus dieser Perspektive die institutionelle Antwort auf die moralische Unsicherheit einerseits und der Überforderung der Politik andererseits. Sie können Entwicklungen in der Forschung verfolgen, Politiker hinsichtlich der gesellschaftlich – ethischen Konsequenzen beraten, damit auf einen möglichen Regelungsbedarf hinweisen und schließlich helfen, politische Entscheidungen vorzubereiten. Im Vergleich mit anderen Formen der Politikberatung betreiben Ethikgremien dabei eine „Technikfolgenabschätzung plus“: Neben der Aufarbeitung des Sachstandes und der Risikobewertung stehen auch explizite Werturteile im Mittelpunkt der Beratungsleistung.

Politikberatung ist jedoch längst noch nicht alles. Wer von uns kann behaupten in Fragen der naturwissenschaftlicher Forschung auf dem Laufenden zu sein? Viele Ethikkommissionen verstehen sich in ihrem Selbstverständnis als Forum der öffentlichen Debatte. Die Begründung ist klassisch demokratietheoretisch: Da viele der behandelten Probleme fundamentale Konsequenzen für die Gesellschaft aufwerfen, sollte die Gesellschaft auch an der Debatte über diese Probleme teilhaben dürfen. Ethikkommissionen nutzen dazu eine Reihe von Instrumenten, die von der Publikation von internen Dokumenten bis zur tatsächlichen Beteiligung von Laien im Beratungsprozess reichen.

Delegation des Gewissens? Warum ethische Debatten in den Bundestag gehören

Um es klar zu stellen: Trotz ihrer Vorzüge können – und wollen – Expertengremien uns damit selbstverständlich nicht das eigene Denken abnehmen. Niemand braucht philosophische Oberseminare, in denen Moralisten dem einfachen Volk erklären, was Gut oder Böse ist. Das ist in einem Zeitalter wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Pluralismus völlig unangebracht.

Die Leistung von Ethikkommissionen liegt vielmehr in der Strukturierung komplexer wissenschaftlicher Probleme, in der Bündelung ethischer Positionen und der Bereitstellung von Argumenten für die gesellschaftliche Debatte. Diese Aufklärungsarbeit und nicht die Lieferung fertiger Antworten ist der wirkliche Mehrwert von Ethikkommissionen. Jeder muss selbst nach bestem Gewissen entscheiden, welche dieser Vorschläge annehmbar sind und welche nicht.

Damit alles gut im Lande Deutschland? In einigen Punkten liegen die Kritiker richtig: Vor allem kurzfristig anberaumte Kommissionen der Bundesregierung riechen oft genug nach reiner Placebo-Politik. Dauerhafte Gremien wie der Deutsche Ethikrat leiden hingegen oft unter mangelnder politischer Relevanz. Ernsthafte Aufklärungsarbeit braucht daher eine Verzahnung mit den Entscheidungsstrukturen des Bundestages. Gewählte Politiker sollten ein gehöriges Wörtchen mitreden dürfen, wenn über gesellschaftliche Fragestellungen debattiert wird. Deshalb ist eine Ethikkommission innerhalb des Bundestages, ähnlich den Enquetekommissionen, aber mit dauerhaftem Auftrag, die richtige Antwort auf die moralischen Herausforderungen der Gegenwart. Das würde auch der Arbeit von Ethikberatern mehr Legitimität, aber auch Relevanz für den Gesetzgebungsprozess verschaffen