„Antisemitismus im 21. Jahrhundert“ – Interview mit Dr. Uri Robert Kaufmann

Wie schätzen Sie die Entwicklung antisemitischer Einstellungen in Deutschland und international ein? Hat sich die Situation verbessert oder verschlechtert?

Kommt darauf an, wie weit man zurückschaut. Wenn ich weiter zurückschaue und mit den 60er und frühen 70er-Jahren vergleiche, haben die antisemitischen Einstellungen, die aus Richtung des Nahostkonflikts kamen, im Westen weniger stark gewirkt. Sie waren weniger ein Thema und auf kleinere Milieus begrenzt. Andererseits gibt es einen Bodensatz an antisemitischen Einstellungen, der schon immer da war. Da muss man sich keine Illusionen machen. Je nach Definition des Antisemitismus hegen zwischen 15 und 20 % der Bevölkerung Einstellungen in diese Richtung. Man hat, wenn man Generationen- und Kohorten-Untersuchungen liest, den Eindruck, dass die jüngeren Generationen eher weniger von antisemitischen Einstellungen geprägt waren. Allensbach-Umfragen aus den 50 und 60er-Jahren sahen bei den Älteren noch deutlich mehr antisemitische Vorstellungen als bei Jüngeren. Die Menschen, die den Krieg und die Sozialisation durch den Nationalsozialismus als Jugendliche und junge Erwachsene mitgemacht haben, sind jetzt nicht mehr am Leben oder sterben aus.

Sie haben die Studien zu Antisemitismus erwähnt, die bei 15 bis 20 % manifest antisemitische Einstellungen festgestellt haben. Aber es gibt auch viele Menschen, die latent antisemitisch sind. Manche sogar ohne es richtig zu begreifen.

Das ist statistisch viel schwerer zu erfassen. Das kann man nur als Eindruck sehen. Man kann sich als jüdischer Mensch im Alltag durchaus einrichten. Man kann sich auch so einrichten, dass man antisemitischen Einstellungen kaum im Leben und Alltag begegnet. Je nachdem kann man dem auch bewusst ausweichen. Ich habe kürzlich mit einem jungen jüdischen Rechtsstudenten aus Berlin gesprochen, der übrigens aus Unna stammt und der auch sagt, dass er mit einem Davidstern in die Hälfte der Stadtviertel von Berlin nicht mehr gehen könne. Das sagt er quasi als junger Hipster.

Glauben Sie, dass der Antisemitismus hier in Deutschland eher an Qualität oder Quantität zugelegt hat?

Das ist eine gute Frage. Ich würde sagen eher an Quantität. Und insbesondere bei Jugendlichen muss man schon auch sagen, da sind antijüdische Einstellungen, die aus dem Nahen Osten kommen, heute sehr viel mehr präsent als das vor vierzig, fünfzig Jahren der Fall war. Weil es dieses Publikum noch gar nicht in der Form gab. Da sind zum Teil qualitativ neue Einstellungen gekommen, insbesondere dieses Hochemotionale gegen die Juden: Die Juden als Weltverschwörer im Bund mit dem Zionismus. Das sind vielleicht schon Dinge, die heute gewisse andere Akzentuierungen nachweisen.

Das ist oft sehr antizionistisch geprägt. Kann man Antizionismus und Antisemitismus voneinander trennen oder geht es miteinander einher?

Das sind natürlich auch Definitionsfragen. Wie definiere ich Antizionismus? Ich glaube es ist sehr schwer die Trennung wirklich sauber durchzuhalten, weil man den Juden das Recht auf Selbstbestimmung absprechen muss, wenn man prinzipiell antizionistisch ist und die Existenzberechtigung des Staates Israel ablehnt. Und das lässt wiederum auf eine Einstellung gegenüber Juden erschließen, die ja schon von antijüdischen Stereotypen geprägt sein muss. Denn wieso dürfen Palästinenser sich selber bestimmen und Juden nicht? Da muss man sich selber erklären. Und ich würde sagen, man kann einfacher trennen zwischen einer antiisraelischen (Anmerkung der Redaktion: prinzipielle Ablehnung des Existenzrechtes des Staates Israel) und auch durchaus regierungskritischen Einstellung und Antisemitismus. Das läuft sicher nicht ineinander her. Aber wenn tiefer gebohrt wird, kann auch hier oft nicht mehr klar auseinandergehalten werden.

Also glauben Sie, dass die israelische Regierungspolitik oft als Projektionsfläche dient, um latenten Antisemitismus ausbrechen zu lassen?

Ich glaube das gibt es in vielen Fällen. Aber man soll genau hinsehen und das nicht pauschalisieren. Man muss sehen wer das sagt, warum er das sagt und was er genau damit meint. Ich würde da zur Vorsicht mahnen. Aber ich glaube schon, das ist offensichtlich, dass quasi eine Kritik manchmal auch ein Mäntelchen ist, um antijüdische Einstellungen zu rationalisieren. Dann ist es akzeptierter, wenn das im Gewand der Kritik an der Regierung daherkommt. Das gibt es auch.

Ist denn der Antisemitismus in Deutschland endgültig in der Mitte der Gesellschaft und insbesondere der bürgerlichen Mitte angekommen und akzeptiert?

Das sich Politiker so offen antisemitisch äußern, wie Teile der AfD das tun, ist eine völlig neue Qualität. Wenn man das Shoah-Mahnmal als Schande an sich bezeichnet und eben nicht die Shoah als Schande sieht, dann lässt das tief blicken. Dass das eine Partei ist, die heute im Bundestag vertreten ist, die in einem Bundesland wie Sachsen mit über 25 % die stärkste Partei geworden ist, finde ich das besorgniserregend. Weil es in der Mitte der Partei eindeutig und offen antisemitische Leute gibt, die trotz ihrer antisemitischen Äußerungen keine Sanktionen zu befürchten haben. In der CDU gab es z.B. den Bürgermeister von Korschenbroich, der meinte, man müsse ein paar reiche Juden erschlagen, um mehr Geld in die kommunalen Kassen zu kriegen. Das gab einen Skandal vor 30 Jahren und der war politisch erledigt. Aber Björn Höcke ist politisch nicht erledigt, im Gegenteil, man hat den Eindruck, er hat eine sehr starke Machtposition, was man beim letzten Bundesparteitag der AfD beobachten konnte. Das ist sehr bedenklich.

Tragen die AfD oder auch andere rechte Partien mit ihrer Politik zu einem Erstarken des Antisemitismus bei?

Ja, weil sie natürlich latente Gefühle, wie Sie sie genannt haben, bestärken. Man fühlt sich quasi unterstützt, weil dann eben Vertreter einer nicht unbedeutenden Partei, keiner Sekte, eben solche Dinge an die Oberfläche bringen. Oder es gibt gar eine Eigendynamik, wenn man vorher hin- und hergerissen war, sich dann plötzliche relativ eindeutig zu antisemitischen Positionen hinbewegt. Auch das würde ich sagen ist möglich durch solche Äußerungen.

Wir sprachen über verschiedene Erscheinungsformen wie völkischen und nahöstlich-motivierten Antisemitismus. Welche Formen sind heute für die Sicherheit jüdischer Menschen besonders gefährlich?

Wenn man auf die deutschen Gemeinden schaut, kann man das nicht so einfach beantworten, weil es von beiden Seiten Übergriffe auf jüdische Institutionen gegeben hat. International gesehen kann ich recht schlecht beurteilen, was beim Iran nur Rhetorik ist. Aber man soll solche Akteure ernst nehmen, denn international gesehen ist ein bis an die Zähne bewaffneter Iran sicherheitsmäßig gefährlicher. Und ich meine die jüdische Gemeinschaft in Israel ist, wo sie 80 % der Bevölkerung ausmacht, neben den USA die größte der Welt.

Was können wir als Zivilgesellschaft und auch die Politik angesichts dieser vielschichtigen Bedrohungen tun, um dem Antisemitismus entgegenzuwirken?

Ich glaube man muss versuchen aufklärerisch zu wirken. Man muss versuchen die Leute dort anzusprechen, wo sie auch sind. Und da versuchen eben aufzuzeigen, dass ein blinder Hass gegen Judentum nicht berechtigt ist. Ich versuche hier im Haus so zu wirken, dass man Judentum als Teil der europäischen und deutschen Geschichte und Kultur ansieht. Und nebenbei auch als Teil der islamischen Traditionen, da jüdische Traditionen ganz offensichtlich auf Mohammad und auf die islamischen Traditionen, die sich danach entwickelten, gewirkt haben. Man muss dann aufzeigen, wenn man gegen Juden eingestellt ist, ist man gegen einen Teil seiner eigenen Kultur, Geschichte und religiösen Tradition und das ist ja widersinnig. Da kann man Menschen, die nicht völlig emotional fixiert sind, überzeugen.

Dr. Uri Robert Kaufmann
ist seit 2011 Leiter der „Alten Synagoge“ Essen. Nach seinem Studium an der Hebräischen Universität Jerusalem und seiner Promotion in Zürich lehrte er unter anderem an der Hochschule für jüdische Studien in Heidelberg. Er veröffentlichte zahlreiche Werke über das jüdische Leben und die jüdische Geschichte in Europa.

Das Interview führte hammelsprung-Autor Taner Kaptagel.