Aus dem Staat geschossen: Der Tod Benno Ohnesorgs und die Generation der 68er

Ein Schuss und seine Folgen: Mehr als 60 Tote. Terrorismus. Aufrüstung des Staates. Politische Strafgesetze. Justiz unter Waffen und Omerta der Täter. Radikalisierung und totalitäre Verirrung einer politischen Generation. Gründung und Aufstieg der Grünen. Schließlich, 42 Jahre nach dem Ereignis: Enthüllung einer monströsen Lüge, eines blutigen Verwirrspiels deutscher Geschichte.

Als der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras am Abend des 2. Juni 1967, gegen 20.30 Uhr, in Westberlin den Germanistik- und Romanistikstudenten Benno Ohnesorg am Rande von Protesten gegen den Besuch des Schahs von Persien im Hof des Hauses Krumme Straße 66/67 in den Hinterkopf schoss, war all dies in einem einzigen Augenblick angelegt. Zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai 1945 und dem Fall der Mauer am 9. November 1989 gibt es keinen zweiten Moment in der deutschen Geschichte, der vergleichbare Wirkung entfaltet hat, bis heute.

Mich hat die Tat zweimal aufgewühlt, im Innersten. Unvergesslich die Erschütterung, als die Nachricht aus Berlin kam: ein Zaungast der Proteste aus der Evangelischen Studentengemeinde im Hinterhof abgeknallt! Die schießen wieder, war der erste Gedanke. „Die“, das waren alte Nazis, „Faschisten“, die sich nach dem Krieg im Sicherheitsapparat festgesetzt zu haben schienen. Und dann, 2009, nicht weniger erschütternd, die Aufklärung. Kurras, dessen Tat von Staat und Justiz in Westberlin skandalös verschleiert worden war – dem Freispruch folgte die Pension –, wurde enttarnt als inoffizieller Mitarbeiter des DDR-Ministeriums für Staatssicherheit, Deckname „Otto Bohl“, ja sogar als Genosse der SED, Mitgliedsnummer 2.002.373. Welch irrwitzige Täuschung!

Stasi-Minister Erich Mielke und die Führung der DDR, die von der wahren Identität des Todesschützen wussten, nach bisherigen Erkenntnissen aber nicht Auftraggeber waren, sondern eher erschrocken über seine Tat, profitierten davon gleich doppelt. Aktuell lieferte Ohnesorgs Tod blutiges Propagandamaterial gegen den Westen. Als der Sarg nach Hannover überführt wurde, standen FDJ, Grenzsoldaten und Betriebsabordnungen an der Transitautobahn Ehrenspalier – rückblickend betrachtet eine widerwärtige Trauerkomödie. Später wurde der linke Terrorismus, der mit Ohnesorgs Tod geboren war, mit kaltem Kalkül ausgebildet, aufgerüstet und ausgebeutet. Für Veteranen des Terrors war die DDR gar Ruheraum.

Kurras hatte eine rebellische Generation aus dem westdeutschen Staat geschossen. Für sie war die Bluttat Fanal zur Radikalisierung. Von Gudrun Ensslin, der Mitbegründerin der RAF, sind die Worte überliefert: „Sie werden uns alle umbringen – ihr wisst doch, mit was für Schweinen wir es zu tun haben (…) Man kann mit Leuten, die Auschwitz gemacht haben, nicht diskutieren. Die haben Waffen, und wir haben keine. Wir müssen uns auch bewaffnen.“ Im September 1967, drei Monate nach Ohnesorgs Tod, predigte Rudi Dutschke auf einem Kongress des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) in Frankfurt den bewaffneten Kampf: „Die ‚Propaganda der Schüsse’ (Che) in der Dritten Welt muss durch die ‚Propaganda der Tat’ in den Metropolen vervollständigt werden, welche eine Urbanisierung ruraler Guerilla-Tätigkeit geschichtlich möglich macht. Der städtische Guerillero ist der Organisator schlechthinniger Irregularität als Destruktion des Systems der repressiven Institutionen.“ Theodor W. Adorno, Mentor der Studentenbewegung, war nicht weit davon entfernt: „Ich habe unmittelbar nach der Ermordung von Ohnesorg meinen Studenten im Soziologischen Seminar gesagt, dass die Studenten heute die Rolle der Juden spielen würden.“

Die RAF hinterließ, als sie sich am 20. April 1998 auflöste, 34 Ermordete, darunter Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer und Generalbundesanwalt Siegfried Buback. Drei weitere Tote, der Bootsbauer Erwin Beelitz, der Kammergerichtspräsident Günter von Drenkmann und das Fememordopfer Ulrich Schmücker, werden der Bewegung 2. Juni angelastet, die sich symbolhaft nach Ohnesorgs Todestag benannte. Hinzu kommen 26 Tote aus den Reihen des Terrorismus – RAF, Bewegung 2. Juni und Revolutionäre Zellen. Bubacks Tod beschäftigt noch heute die Justiz, in Stuttgart sitzt Verena Becker vor Gericht. Ihre einstigen Genossen, in den Zeugenstand gerufen, schweigen indes noch immer – ganz in der Tradition der nazistischen Vätergeneration.

Auch mich hat der Schuss in der Krummen Straße radikalisiert. Ich nahm am Frankfurter Straßenkampf teil, warf mit Steinen. Und ich erlebte, wie andere in den Terrorismus glitten: Hans-Joachim Klein, der am Opec-Überfall in Wien teilnahm; Wilfried Böse, der eine Air France-Maschine nach Entebbe entführte, dort Juden unter den Passagieren selektierte und von einem israelischen Kommando erschossen wurde; Johannes Weinrich, der als Adjutant des Topterroristen Carlos um die Welt jettete.

Wer nicht in den Untergrund ging, organisierte – besser gesagt: stalinisierte – sich oft in kommunistischen Zirkeln. Die antiautoritäre Rebellion der 68er wurde abgelöst von der totalitären Disziplinierung in K-Gruppen. Erst die Gründung der Grünen, in die sich viele nach Jahren retteten, brachte Erlösung von der Verblendung. Gunnar Hinck hat diesen Prozess in einem vorzüglichen Buch aufgearbeitet: „Wir waren wie Maschinen. Die bundesdeutsche Linke der siebziger Jahre“ (Rotbuch Verlag). Darin werden die Wurzeln der grünen Gründergeneration ausgegraben: Jürgen Trittin (KB), Krista Sager (KBW), Joschka Fischer (Revolutionärer Kampf), Daniel Cohn Bendit (Revolutionärer Kampf), Reinhard Bütikofer (KBW), Ralf Fücks (KBW), Angelika Beer (KB), Winfried Nachtwei (KBW)…

Im Rückblick müssten alle schaudern. Das Selbstverständnis jener, für die Ohnesorgs Tod ein zentrales, oft das entscheidende Motiv ihrer politischen Orientierung war, ist durch die Aufdeckung der Wahrheit entwertet.

Hans-Ulrich Jörges in Mitglied der Chefredaktion des „Stern“ und Chefredakteur für Sonderaufgaben des Verlages Gruner + Jahr. 2004 wurde Jörges zum Journalisten des Jahres in der Kategorie Politik gewählt und 2006 von der britischen Financial Times zu den einflussreichsten Kommentatoren der Welt gezählt.