Beziehungsstatus: Es ist kompliziert

Beziehungsstatus: Es ist kompliziert – Zum Stand der Brexit-Verhandlungen

Die Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union sind in der finalen Phase – und die Zeit läuft. Doch die letzten Hürden sind die höchsten.

Wenn die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedstaaten diese Woche zu einem informellen Treffen in Salzburg zusammenkommen, wird auch der Brexit als eines der Topthemen auf der Tagesordnung stehen. Denn die Uhr tickt: Am 29. März 2019 wird das Vereinigte Königreich offiziell aus der Europäischen Union austreten – auf den Tag genau zwei Jahre nachdem Premierministerin Theresa May den entsprechenden Artikel 50 des Lissabon-Vertrags aktiviert und damit den Countdown gestartet hat. Zieht man die Zeit ab, die das britische sowie das Europäische Parlament für die Ratifizierung eines eventuellen Austrittsabkommens brauchen, sollten die Brexit-Verhandlungen bis Mitte November dieses Jahres abgeschlossen sein. Der Chefunterhändler der EU, Michel Barnier, hält das weiterhin für möglich, der Austrittsvertrag sei bereits zu 80 Prozent ausverhandelt. Im Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung sagte er: „Wir brauchen nicht mehr Zeit. Was wir brauchen, sind politische Entscheidungen!“

Politische Entscheidungen, wie die Zukunft des Vereinigten Königreichs nach dem Austritt aus der EU aussehen soll – damit tut sich Theresa May schwer. Seitdem sie im Juli 2016 die Nachfolge von David Cameron als Vorsitzende der Conservative Party und Premierministerin angetreten hat, hat die krisengeschüttelte May einen bemerkenswerten Policy-Shift hingelegt. Angefangen bei ihrem stoischen Mantra „Brexit means Brexit“ hat sie – zahlreiche Widerstände innerhalb ihres Kabinetts sowie ihrer Partei in Westminster und aufreibende Verhandlungsrunden in Brüssel später – ihr Kabinett im Juli dieses Jahres größtenteils hinter einem „softeren“ Brexit-Plan vereinigt. Die Herstellung einer zumindest gewissen Arbeitsfähigkeit der britischen Regierung hinsichtlich dieser für das Land so zentralen Frage wurde jedoch prompt von den Rücktritten des Brexit-Ministers David Davis und des Außenministers Boris Johnson überschattet. Der bevorstehende informelle EU-Gipfel wird nun das erste Mal sein, dass die Staats- und Regierungschefs gemeinsam diesen sogenannten Chequers-Plan der britischen Regierung diskutieren. Doch wie wahrscheinlich ist ein Durchbruch bei den Brexit-Verhandlungen?

Zwischen den Verhandlungspositionen des Vereinigten Königreichs und der EU liegt nicht nur der Ärmelkanal, sondern Welten. Die größten Streitpunkte sind die Ausgestaltung der künftigen Handelsbeziehungen und die damit verbundene Frage, wie sich trotz Brexit eine harte Grenze zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland vermeiden lässt. Mays Chequers-Plan umfasst dazu zwei Lösungsvorschläge, die mit Brüssel nicht zu machen sein dürften.

Bezüglich des ersten Streitpunkts strebt London ein „gemeinsames Regelbuch“ mit der EU für Industriegüter und landwirtschaftliche Produkte an, um grenzüberschreitende Lieferketten – wie etwa in der wichtigen Automobilindustrie – zu schützen und den Handel weiterhin so reibungslos wie möglich zu halten. Während Produktstandards übernommen werden sollen, will May jedoch den freien Verkehr von Kapital, Dienstleistungen und Personen einschränken. Mit dem Ende der Freizügigkeit würde sie eine zentrale Forderung der Brexit-Befürworter umsetzen. Im für die Insel dominanten Dienstleistungssektor will sie regulatorische Flexibilität. Für die EU dürfte dieser Sektor-für-Sektor-Ansatz völlig inakzeptabel sein, da er die Integrität des Europäischen Binnenmarktes gefährden würde. Bereits in seinen Verhandlungsleitlinien vom April 2017 hat der Europäische Rat festgelegt, dass die vier Grundfreiheiten unteilbar seien und es kein „cherry picking“ geben dürfe. Selbst wenn die EU ihre Prinzipien dehnen würde, hat Chefunterhändler Barnier darüber hinaus noch einen ganz praktischen Einwand: In jedem Produkt steckten auch Dienstleistungen, bei Mobiltelefonen beispielsweise 20 bis 40 Prozent des Gesamtwerts. Bleibt die EU bei ihrer bisherigen Position, was den Handel betrifft (und sie würde die Büchse der Pandora öffnen, wenn sie es nicht täte), dann hieße es für Theresa May: Ganz oder gar nicht.

Hinsichtlich des zweiten Streitpunkts will London einerseits die Europäische Zollunion verlassen, um eigene Handelsabkommen mit Drittstaaten wie den USA schließen zu können. Um andererseits gleichzeitig Grenzkontrollen zwischen Nordirland und Irland zu vermeiden, hat sich Mays Kabinett in Chequers ein abenteuerliches Konstrukt ausgedacht: Für Importe aus Drittländern wollen die Briten zwei verschiedene Zollsätze erheben, je nachdem, ob die Waren für den britischen oder für den europäischen Markt bestimmt sind. Die fixe Idee wird von Brüssel strikt abgelehnt. Es sei nicht nur praktisch unmöglich festzustellen, wo ein Produkt am Ende landet, sondern das ganze Konstrukt sei auch rechtlich nicht umsetzbar. In der Tat wäre es absurd, wenn die EU die Souveränität über ihre Außengrenzen und die Zolleinnahmen dort an ein Land auslagern würde, das selbst nicht länger seine Souveränität mit der EU teilen will. Legt London keine tragfähige Alternative auf den Tisch, würde der Gegenvorschlag der EU greifen, der im bisherigen Brexit-Vertragsentwurf als Notlösung festgeschrieben ist. Demnach würde Nordirland Teil der Europäischen Zollunion bleiben, was eine Zollgrenze zwischen Nordirland und Großbritannien zur Folge hätte. Für May wäre das eine nicht hinnehmbare Verletzung der konstitutionellen Integrität des Vereinigten Königreichs: „No UK prime minister could ever agree to it.“

Sind die Brexit-Verhandlungen also auf den letzten Metern doch endgültig in einer Sackgasse gelandet? Oder ist ein Durchbruch in letzter Minute noch möglich? Um eine Lösung zu erreichen, müsste Theresa May der EU entgegenkommen, ohne dabei die Unterstützung ihrer Conservative Party, des Parlaments in Westminster oder weiterer Mitglieder ihres Kabinetts zu verlieren. Ein womöglich halsbrecherischer Spagat.

Parallel zu den Verhandlungen bereiten sich sowohl die EU als auch das Vereinigte Königreich auf einen „Cliff Edge“-Brexit, also einen ungeordneten EU-Austritt, vor. Ein „No Deal“-Szenario wäre für keine der beiden Seiten gut – für das Vereinigte Königreich aber wesentlich schlechter. Dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der EU und fünftgrößte der Welt ungeregelt aus der EU rausfällt, ist nur schwer vorstellbar. Allerdings konnte man sich auch nur schwer vorstellen, dass die Briten für den Brexit stimmen würden oder die Amerikaner Donald Trump zum Präsidenten wählen würden. „Common Sense“ – wie die Briten den gesunden Menschenverstand nennen – steht in diesen politisch aufgewühlten Zeiten nicht besonders hoch im Kurs. Und so ist in Bezug auf die Brexit-Verhandlungen nur eines gewiss: Ausgang ungewiss.

Ein Essay von Michael Schmidt

Michael Schmidt studierte Politik- und Rechtswissenschaft in Bonn und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrungen sammelte er im Bundesministerium für Bildung und Forschung sowie in der Vertretung der Europäischen Kommission in Bonn. Seit Juli 2018 sitzt er für die Juso-Hochschulgruppe im Allgemeinen Studierendenausschuss der Uni Duisburg-Essen.