Die Getriebenen von Smolensk – oder: erfolgreiches negative campaigning in Polen

Eigentlich könnte Donald Tusk ein glücklicher Mann sein. Der polnische Premierminister und seine Regierungsmannschaft dürfen sich wichtige Erfolge wie eine historisch einmalige Wiederwahl, wirtschaftliche Prosperität oder außenpolitisches Renommee auf die Fahnen schreiben. Und doch wird die Regierung von der rechtskonservativen Opposition vor sich hergetrieben.

Von Mathias Grudzinski

Es ist der 10. April 2012, zweiter Jahrestag des Flugzeugabsturzes bei Smolensk, bei dem der polnische Präsident Lech Kaczyński und große Teile seines Stabes auf tragische Weise ums Leben gekommen sind. Tausende Menschen versammeln sich vor dem Präsidentenpalast in Warschau, um der Toten zu gedenken und ihrem geistigen Anführer zu lauschen. Doch dieser Redner ist nicht etwa der polnische Premierminister Donald Tusk – sondern der Bruder des Verstorbenen Jaroslaw Kaczyński. „Schändlich“ und „verlogen“ sei die Politik der Regierung, sagt der Oppositionsführer der nationalkonservativen Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS). Nur die Wahl der eigenen Partei könne die Wahrheit über Smolensk ans Licht bringen. Die Menge jubelt und skandiert Parolen: „Schande“, „Verräter“ und sogar „Mörder“ ist vereinzelt zu hören. Manche Demonstranten haben Plakate dabei, auf denen der Comicfigur Donald Duck der Kopf abgeschlagen wird. Die Bedeutung dieses Bildes ist klar.

Die verstörenden Szenen, die sich am 10. April vor dem Präsidentenpalast in Warschau abgespielt haben, sind nur der Höhepunkt einer lange gärenden Entwicklung: Der polnischen Opposition ist es gelungen den öffentlichen Raum zu erobern. Wie konnte das passieren?

Verschüttete Milch und andere Verschwörungstheorien

Lange Zeit schien die regierende Bürgerplattform (PO) alles richtig zu machen. Entgegen vieler Vorhersagen gelang es ihrem Kandidaten – dem als Biedermann geltenden Bronislaw Komorowski – 2010 das Präsidentenamt zu gewinnen. Nur ein Jahr danach der nächste beispiellose Coup: Die PO und ihre Koalitionäre von der Bauernpartei (PSL) gewannen 2011 auch die Parlamentswahlen – erstmals nach 1989 wurde damit eine Regierung im freien Polen wiedergewählt. Jaroslaw Kaczyński, Gegenkandidat bei beiden Wahlen, schien politisch am Ende. Gescheiterter Premierminister von 2005 bis 2007, sechs verlorene Wahlen infolge, nicht mal der Tod des eigenen Bruders als moralisches Pfund – was hätte die neu beschworene Stabilität der Regierung noch gefährden können?

Doch es kam anders. Kaczyński und seine Parteistrategen von der PiS änderten nun den Kurs: Plötzlich schien bei jedem wichtigen politischem Ereignis, bei jedem Feiertag, bei jeder Rede eines Regierungsvertreters eine kleine Schar demonstrierender Oppositionsanhänger anwesend. Dieser ständig mobilisierbare Anhängerkern kam nicht allein. Im Gepäck: Die wichtigsten Medienvertreter der polnischen Rechten – Gazeta Polska und Radio Maria, um nur einige zu nennen – aber was noch viel wichtiger ist, eine Botschaft: Kein menschliches Fehlversagen, sondern ein russisches Mordkomplott unter Beteiligung der eigenen Regierung solle für den Absturz der Präsidentenmaschine verantwortlich sein.

Das saß. Aber dennoch: Bliebe es nur bei dieser Verschwörungstheorie, bei einer single-issue-Bewegung, dann wäre das Medieninteresse schnell abgeflacht. Der PiS gelang es aber schrittweise ihre Demonstrationsagenda zu erweitern und damit die Zahl der Teilnehmer zu erhöhen. Das Copyright-Abkommen ACTA? Schuld des Premierminister Donald Tusk. Die Finanzkrise? Donald Tusk. Verschüttete Milch? Natürlich Donald Tusk.

Die Bürgerplattform antwortete lange Zeit mit vornehmer Zurückhaltung und Antizipation. Man war sich sicher, dass die ständige Wiederholung immer absurderer Vorwürfe das polnische Volk schnell ermüden und die Scharfmacher ins Leere laufen lassen würde. Gleichzeitig versuchte man die Opposition in jeder Hinsicht moralisch zu überbieten. Kein Tag schien zu vergehen, an dem in Polen nicht ein neues Denkmal für die Opfer von Smolensk enthüllt wurde. Die traditionell tiefe Spaltung der polnischen Gesellschaft in Stadt-(PO) und Landbevölkerung (PIS) sollte – so die Hoffnung – durch aggressive Rhetorik nicht noch weiter vertieft werden.

Um es kurz zu machen: Diese Strategie ist gescheitert. Mittlerweile steht der Regierung eine seltsame Allianz von Nationalkonservativen, Gewerkschaften, großen Teilen des katholischen Klerus und nicht zuletzt eines undefinierbaren Internetmobs entgegen. In den Sonntagsumfragen der vier größten polnische Institute fahren Bürgerplattform wie Bauernpartei historisch niedrige Werte ein. Schon macht in den polnischen Feuilletons das Gespenst der Neuwahlen die Runde. Nur noch die nahende Europameisterschaft 2012 könne das polnische Volk besänftigen und der Regierung eine Atempause verschaffen.

Noch ist Polen nicht verloren – Erfolgsgeschichten besser kommunizieren

Was kann man aus dieser Geschichte lernen? Wer Brandstiftern das Feld überlässt, kann nur verlieren. Die Bilder demonstrierender Massen, die Schärfe und Lautstärke von Vorwürfen entfalten – ganz unabhängig von ihrer Stichhaltigkeit – [Thorsten: fehlt hier nicht ein Verb] eine ganz eigene suggestive Kraft. Wird diesen im Raum stehenden Vorwürfe nicht widersprochen, nicht kommunikativ entgegengetreten, entfalten sie eine eigene Dynamik, ihre eigene Wahrheit. Dieser Schneeballeffekt wird durch die Medien freiwillig wie auch unfreiwillig verstärkt und endet schließlich in einer öffentlichen Delegitimierung einer erst kürzlich wiedergewählten Regierung.

Was könnte man den Strategen von Bürgerplattform und Bauernpartei in diesem Fall empfehlen? Die Regierungsvertreter müssen die Rolle des zentralen Kommunikationsakteurs wieder an sich bringen. Eine erfolgreiche Kommunikationsstrategie könnte folgendermaßen aussehen: Zurückhaltung und Antizipation sind beizubehalten. Eine aggressive Rhetorik würde die Spaltung der polnischen Gesellschaft nur weiter vertiefen. Die Lösung liegt vielmehr in der Ergänzung: Und zwar in der erfolgreichen Kommunikation der bisherigen Erfolge.

Polen, die grüne Insel Europas, wies als einziges Land der EU auch während der Finanzkrise ein hohes wirtschaftliches Wachstum auf. Das gute Investitionsklima, die niedrige Arbeitslosenquote und der Lohnanstieg sind überall zu spüren. Der liberalen Bürgerplattform gelang es außerdem, durch eine pragmatische Außenpolitik ein gutes Verhältnis zu Polens Nachbarn aufzubauen. Das jüngste Zeugnis dessen lässt sich am 31. Mai in Berlin beobachten: Dort soll der polnische Premierminister den Walther-Rathenau-Preis für seine Rolle im deutsch-polnischen Aussöhnungsprozess erhalten. Die Laudatio wird gehalten von niemand anderes als Bundeskanzlerin Angela Merkel.

Donald Tusk hat in der letzten Zeit eine Reihe kämpferischer Reden im Parlament gehalten. Das ist ein guter Anfang. Es braucht aber noch mehr: Eine Kommunikationsstrategie, welche die bisherigen Erfolge der Regierung besser verkauft. Das anstehende Fest der Fußballfreunde sollte eine gute Möglichkeit sein, wieder Boden gutzumachen.