die ultra-szene als ort des bürgerschaftlichen engagements?

Bürgerschaftliches Engagement und Ultra-Szene – für viele Leserinnen und Leser wird der Titel dieses Beitrags für Stirnrunzeln sorgen: Ultras, sind das nicht diese Fußballchaoten, diese stoppelhaarigen und politisch rechts orientierten Typen, die Veranstaltungen aufmischen und durch Gewalttätigkeiten auffallen? Wie passt deren Verhalten mit „bürgerschaftlichem Engagement“ zusammen?

Ein Gastbeitrag von Pina Nell

Der vorliegende Artikel soll einen direkten Einblick in das Engagement zweier deutscher Ultra-Gruppierungen geben und das breite Spektrum aufzeichnen, in dem diese Ultra-Gruppen aktiv sind. Dabei werden ganz bewusst nur die Aktivitäten betrachtet, die bürgerschaftlichen Charakter annehmen, und bisher kaum im Fokus von wissenschaftlichen Untersuchungen oder medialer Berichterstattung standen. Die Konzentration auf diese Aspekte der Fankultur soll die Ultra-Szene dabei weder verherrlichen noch gewaltbereites Handeln von Ultras verleugnen. Es soll den Leserinnen und Lesern die Möglichkeit geben, sich ein differenziert(er)es Bild von der Szene zu machen.

Was sind Ultras?

Als Ultras werden in wissenschaftlichen Publikationen bestimmte, kritische Fußballfans bezeichnet, deren Kritik sich vorwiegend gegen die konkrete Vereinspolitik, die fortlaufende Kommerzialisierung des Fußballs und den Bedeutungsverlust der im Stadion anwesenden Zuschauer richtet. Ultras sehen in diesen Entwicklungen eine Gefährdung der jugendlichen Fankultur. Sie kämpfen daher unter anderem für den Erhalt der traditionellen Fankultur und gegen reine Sitzplatzstadien. Im Stadion machen Ultra-Gruppierungen durch aufwendige Choreographien und Spruchbänder, eigene Medien (z.B. Fanzines oder andere Informationsmedien), lautstarke Anfeuerung und einen einheitlichen Kleidungsstil auf sich aufmerksam.

Die Wurzeln der deutschen Ultras liegen in Italien, wo sich die Szene in den späten sechziger Jahren im Zusammenhang mit politisch linksgerichteten Studierendenprotesten und der Entwicklung einer neuen Arbeiterbewegung (1969) bildete. Die jugendlichen Fußballfans begannen die italienischen Stadien dazu zu nutzen, mit politischen Botschaften gegen die wahrgenommene soziale Ungerechtigkeit im eigenen Land aufmerksam zu machen. Im Zuge der Weltmeisterschaft 1990 in Italien, schwappte die Bewegung nach Deutschland über, sodass zwischen 1997 und 2001 die meisten deutschen Ultra-Gruppierungen entstanden. Mittlerweile gibt es Ultra-Gruppierungen in den meisten Fußballstadien der 1. und 2. Bundesliga. Junge, deutsche Männer, die in der gesellschaftlichen Mittelschicht anzusiedeln sind, bilden den Mitgliederkreis der deutschen Ultra-Szene. Frauen sind in der Minderheit. Die junge, gut organisierte Fanfraktion ist basisdemokratisch ausgerichtet und zeichnet sich in der Regel durch eine straffe Organisationsstruktur und klar festgelegte Verantwortlichkeiten aus.

Die Kultur der Ultras wird in wissenschaftlichen Publikationen unter anderem als eine Zuneigungs-, Demonstrations- und Provokationskultur bezeichnet, wobei sie sich hierbei nicht nur auf den Fußball bezieht: Ultras lässt sich eine Identität attestieren, die alle Lebensbereiche prägt. In der Literatur wird diesbezüglich von einer auf Aufmerksamkeit, Einfluss und Spaß ausgerichteten Lebensphilosophie gesprochen. Sie stehen im ständigen Wettbewerb mit anderen Ultra-Gruppen um die lautstärkere und kreativere Unterstützung der Mannschaft. Dabei betonen sie ihre Unabhängigkeit von der Vereinsführung.

Klein und Meuser bezeichnen die Sinnwelt der Ultras als „politische Gemeinschaft“, da sie „ihre gesamte Lebensführung nach Maßgabe der Regeln der Ultra-Fangemeinde organisieren und das Ultra-Sein als identitätspolitisches Statement verstehen“. In der deutschen Ultra-Szene dominiert nach Meinung einiger WissenschaftlerInnen eine antirassistische Grundhaltung, wobei der Großteil der Szene einen unpolitischen Habitus propagiert und politisch motivierte Aktionen aus dem Stadion heraushalten möchte. Politisch agiert die Szene zum Beispiel durch teilweise sogar bundesweit geplante Aktionen wie Sitzstreiks, Busblockaden oder Fan-Demonstrationen, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen und aktiv in die Vereins- und Fußballpolitik einzugreifen. Von den Vereinen wird die öffentlichkeitsorientierte Subkultur als unkalkulierbarer Faktor angesehen, der einerseits durch farbenfrohe Inszenierungen (Choreographien, Spruchbänder etc.) für einen positiven Imagefaktor sorgt, aber andererseits durch die propagierte Unabhängigkeit und die kritische und distanzierte Haltung zur Vereinspolitik unkontrollierbar ist.

Trotz der in der Literatur recht eindeutig erscheinenden Beschreibung des Phänomens „Ultras“ erscheint es wenig sinnvoll, von der Ultra-Szene oder den Ultras im Allgemeinen zu sprechen. Die einzelnen Gruppen dieser speziellen Fankultur zeigen ein insgesamt eher heterogenes Bild, wie im Folgenden auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Engagement-Formen deutlich wird.

 

Wie sieht ihr Engagement konkret aus?

In den Interviews mit ausgewählten Ultra-Gruppen haben sich folgende Engagementbereiche herauskristallisiert: Das stadion- und fußballbezogene Engagement umfasst auf der einen Seite unter anderem den direkten Support der Mannschaft im Stadion und die Herstellung der dafür nötigen Materialien (Doppelhalter, Fahnen, Transparente etc.), Aufklärungsarbeit im Stadion über die Ultra-Philosophie (z.B. durch eigene Informationsstände im Stadion), die Organisation von Aktivitäten (Fußballspiele, Grillfeste etc.) mit Personen außerhalb und innerhalb der Ultra-Szene und die Herausgabe von eigenen Medien (Fanzines). Dieses Engagement wird von einigen Ultras selbst als „fanpolitisch“ bezeichnet, das besonders dann politischen Charakter annimmt, wenn es um die kritische Haltung zur Vereinspolitik und zur Kommerzialisierung des Fußballs geht. Die Schaffung einer fanfreundlicheren Fußballatmosphäre wird generell zum Ziel erklärt.

Auf der anderen Seite gehören zu diesem Engagementbereich aber auch Aktionen im Stadion, die gesamtgesellschaftlich relevante Probleme thematisieren: Durch die Mit-Organisation der FARE-Woche („Football Against Racism in Europe“) oder die Ausrichtung von so genannten Actiondays zu Themen wie Rassismus, Homophobie oder Sexismus werden national oder international geplante Aktionen auf die Ebene des lokalen Stadionpublikums heruntergebrochen. Obwohl die Ultra-Gruppen die Themen fußballbezogen vermitteln, geht es ihnen immer auch darum, zu einer Verbesserung der gesamtgesellschaftlichen Situation beizutragen. Die StadionbesucherInnen sollen dazu angeregt werden, sich mit den (globalen) gesellschaftlichen Problemen auch außerhalb der Stadien selbstständig zu beschäftigen. Im Rahmen dieser Veranstaltungen werden zielgruppenspezifisch verschiedene Informationsmöglichkeiten angeboten: neben Informationstafeln, Choreographien und AnsprechpartnerInnen im Stadion, gehören auch Filmabende, Diskussionsrunden oder Partys außerhalb des Stadions zum Repertoire. Außerdem engagieren sich Ultras auf lokaler, stadtbezogener Ebene: Sie richten zum Beispiel Konzerte aus um lokalen KünstlerInnen eine Bühne zu geben. Die Einnahmen werden lokalen sozialen Einrichtungen oder Projekten gespendet (u.a. Kinderhospizen und Flüchtlingshilfsorganisationen).

Bei der Umsetzung verschiedener Aktionen kooperieren die Ultra-Gruppierungen auch mit Personen und Organisationen, die nicht unbedingt fußballaffin sind: Beispielsweise laden sie, in Kooperation mit Hilfsorganisationen, Flüchtlinge ins Stadion ein. Hierdurch wird nicht nur den Flüchtlingen eine Abwechslung zu ihrem Alltag in Flüchtlingsheimen geboten – auch die (jüngeren) Ultra-Mitglieder erhalten die Chance, andere Lebensverhältnisse und Existenzbedingungen (die sie sonst nur aus den Medien kennen) kennen zu lernen. Auch die Teilnahme an und die Mit-Organisation von Demonstrationen fällt ins Engagementgebiet einzelner Ultra-Gruppen: Hierbei reicht der Anlass der Demos von fußballspezifischen Themen (z.B. bundesweite Demos gegen Spieltagverlegungen), über stadtpolitische Themen (z.B. Gegendemos zu Naziaufmärschen) bis hin zu gesamtgesellschaftlich und politisch relevanten Themen (z.B. Teilnahme an Gedenkdemos zur Befreiung vom Faschismus). Internationales, politisches Engagement hat ebenfalls bei einigen Ultras einen hohen Stellenwert: Als Mitglied in internationalen Netzwerken (z.B. Alerta-Network) oder Teilnehmer an internationalen Fußballturnieren (z.B. der „mondiali antirazzisti“) beziehen sie politisch Stellung und können sich mit Gleichgesinnten weltweit austauschen. Der Erfahrungsaustausch auf globaler Ebene führt zur Planung neuer Projekte, die später auf lokaler Ebene verwirklicht werden.

 

Handeln sie tatsächlich bürgerschaftlich?

Im Gespräch mit VertreterInnen der Ultra-Gruppierungen wird schnell klar, dass sich ihr Engagement bewusst nicht nur auf das Fußballstadion und fußballspezifische Themen beschränkt, sondern weit darüber hinausgeht. Spaß und politischer Gestaltungs- und Veränderungswille liegen in dieser Szene zum Teil sehr nahe beieinander. Dennoch wäre es nicht angemessen, die Ultra-Szene pauschal als Ort des bürgerschaftlichen Engagements zu bezeichnen, da sich, wie bereits erwähnt, die einzelnen Gruppen sehr stark unterscheiden und auch das Engagement innerhalb einzelner Gruppierungen nur zum Teil bürgerschaftlichen Charakter annimmt. Es kann jedoch festgehalten werden, dass es sich bei Ultras keineswegs ausschließlich um fußballfixierte, gewaltorientierte junge Menschen handelt. Die Ultra-Szene lebt auch von politisch aktiven Personen, deren Engagement in der Gesellschaft mit dem Engagement traditioneller, gesellschaftlich „anerkannter“ Gruppen und Milieus durchaus zu vergleichen ist.

Pina Nell

hat sich im Rahmen ihrer Bachelorarbeit mit dem Themenkomplex „Ultras“ auseinandergesetzt. Seit Oktober 2009 studiert sie im Master Soziologie an der Uni Duisburg-Essen und interessiert sich u.a. für Jugendkulturen, freiwilliges Engagement und europäische Sozialpolitik.