Drei Fragen zur Zukunft eines sozialen Europas

Vor einem Jahr wurde die soziale Säule der EU präsentiert. Mit 20 Grundsätzen sollten neue, wirksame Rechte für BürgerInnen bereitgestellt werden. Mit den EU-Abgeordneten Jens Geier (SPD) und Dennis Radtke (CDU) haben wir in Duisburg über die Zukunft eines sozialen Europas gesprochen.

Wie kann oder soll eine soziale EU für Sie aussehen?

Jens Geier (SPD): Das Kernproblem besteht darin, dass wir eigentlich immer nur Fortschritte gemacht haben, wenn es darum geht die wirtschaftliche Seite der europäischen Staaten zu integrieren. Die soziale Seite fehlt. Was wir eigentlich brauchen ist eine gemeinsame Verabredung, dass Wirtschaftswachstum eingesetzt wird, um auf der nationalen Ebene soziale Standards anzuheben. Das ist der eine Punkt. Herr Radtke hat Recht, wenn er sagt, es kann keinen europäischen Mindestlohn geben, das muss sich an den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten eines Landes ausrichten, aber in jedem Staat ein Mindestlohnsystem, das geht schon. Der zweite Punkt ist: Wir brauchen – das ist sehr technisch, aber im Prinzip der Ausgangspunkt – eine Sozialklausel im Primärrecht. Das heißt, im EU-Vertrag muss es eigentlich eine Klausel geben, die sagt: Keine europäische Regelung kann zu einer sozialen Schlechterstellung in den Mitgliedsstaaten führen. Das würde bedeuten, dass die sozialpolitischen Fragestellungen den vier Grundfreiheiten der EU gleichgestellt sind und das würde ein Anheben der gemeinsamen sozialen Standards insgesamt bedeuten: In der Mitbestimmung, in der sozialen Absicherung, im Arbeitsschutz.

Dennis Radtke (CDU): Ganz kurz und knapp lässt sich die Frage natürlich nicht beantworten, aber zur Wahrheit gehört dazu – da teile ich die Analyse von Jean-Claude Juncker voll umfänglich – der nämlich gesagt hat: Das Narrativ von Europa als Friedens- und Freiheitsgarant ist wichtig und wird auch wichtig bleiben, allerdings auf Dauer nicht ausreichen, um die Akzeptanz der Europäischen Union auch dauerhaft und in Zukunft sicherzustellen. Wir brauchen das Narrativ vom sozialen Fortschritt, der den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern durch die Europäische Union mehr oder weniger garantiert oder gebracht wird. Deswegen finde ich es eminent wichtig, dass wir jetzt bei dem Prozess der europäischen Säule der sozialen Rechte nicht nur bei sozialphilosophischen Betrachtungen stehen bleiben, sondern dass wir eben auch nach und nach versuchen, daraus konkretes Recht abzuleiten und es gibt ja schon einige Beispiele, wo das sehr erfolgreich gelungen ist. 

Wie können die Rechte von ArbeitnehmerInnen gestärkt werden?

Jens Geier (SPD): Indem Sie in das Unternehmensrechtspaket der Europäischen Union progressive Regelungen einbauen. Da drin sind nämlich die Möglichkeiten gegeben, wie eine Arbeitnehmermitbestimmung im Betrieb laufen muss. Wenn eine progressive Mehrheit im Europäischen Parlament, das dort verankert kriegen würde, würden wir die Mitbestimmung europaweit sichern und ausbauen können.

Dennis Radtke (CDU): Ich glaube wir müssen hier differenzieren: Auf der einen Seite – und da bin ich der festen Überzeugung und da bleibe ich auch bei – Rechte von Arbeitnehmern werden natürlich an vielen Stellen am besten geregelt von denjenigen, die das Geschäft auch am besten verstehen. Das sind Gewerkschaften und Betriebsräte und deswegen meine ich, Vorrang muss vor allem immer eine tarifvertragliche Regelung haben und natürlich eine Regelung auf der betrieblichen Ebene in Betriebsvereinbarungen. Wir stellen aber leider fest, dass an vielen Stellen durch Tarifflucht oder durch fehlende Mitbestimmung, solche kollektivrechtlichen Regelungen überhaupt gar nicht mehr existieren. Das heißt, die Politik ist eigentlich gezwungen darauf zu reagieren und da nicht nur auf der nationalen Ebene, sondern auch auf der europäischen Ebene einen neuen Ordnungsrahmen zu schaffen, indem sie den Katalog an Mindestrechten für jeden einzelnen Beschäftigten erweitert. Dies diskutieren wir aktuell in der Richtlinie für transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen. Wie soll eben dieser Mindestkatalog in Zukunft aussehen?  

Muss das Europäische Parlament durch den Einzug europafeindlicher Parteien in dieser Hinsicht eine Handlungsunfähigkeit befürchten?

Jens Geier (SPD): Nein, weil die nicht mal in die Nähe der Zahl kommen werden, dass sie die Gesetzgebung wirklich beeinflussen. Die Menge der Abgeordneten in den proeuropäischen Fraktionen wird immer größer bleiben. Das Problem ist: Die proeuropäischen Fraktionen müssen mehr Kompromisse miteinander schließen, als eigentlich gut ist. Insofern quetschen die, wenn mehr rechtsextreme ins Europäische Parlament kommen, die anderen Fraktionen zusammen und zwingen sie zu einer Zusammenarbeit, die möglich ist, aber dann auch politische Unterschiedlichkeiten verunklart. Schlimmer ist, dass diese Rechtsextremen einen Einfluss haben auf die politische Stimmung in den Mitgliedsstaaten und in vielen Mitgliedsstaaten schon dafür sorgen, dass Regierungen sich nicht mehr in der Lage fühlen, eine Regulierung, die sie in Brüssel verhandelt haben, zu Hause durchzusetzen. Diese Leute verändern also das politische Klima innerhalb der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union und darin liegt die reale Gefahr. Die kommen nicht in die Nähe der Gesetzgebungskraft und, dass wir uns ihren Dreck, sage ich mal deutlich, in den Plenardebatten des Europäischen Parlaments anhören müssen, sowas ist in meinem Gehalt mit drin, das muss ich aushalten.

Dennis Radtke (CDU): Zu befürchten ist das immer. Das kann auch der Deutsche Bundestag befürchten, wenn rechts- und linkspopulistische Kräfte bei einer Bundestagswahl oder bei einer Landtagswahl über 50 Prozent bekommen, dann sind wir auch in der Situation. Aber natürlich ist es so, dass die Europawahl jetzt die nächste große Wahl ist, die vor der Brust ist. Aktuell ist das Delta bei den 751 Abgeordneten zwischen den Pro-Europäern und den ganz klaren Anti-Europäern noch 41 Köpfe groß. Das ist kein Ruhekissen, da sind einfach alle demokratischen Kräfte gefordert vor der Europawahl zu mobilisieren, damit dieses Delta auch weiterhin bestehen bleibt und sich die Verhältnisse nicht, wie Sie eben schon angedeutet haben, möglicherweise umkehren. 

Jens Geier (SPD) ist seit 2009 Abgeordneter im Europäischen Parlament und seit 2017 Vorsitzender der Europa-SPD. Er ist Vorsitzender des EU-Haushaltsausschusses sowie Mitglied der Delegation für die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Als Abgeordneter vertritt er das westliche Ruhrgebiet und den nördlichen Niederrhein.

 

Dennis Radtke (CDU) ist seit Juli 2017 Abgeordneter des Europäischen Parlaments. Er ist Mitglied im Ausschuss für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten sowie der Delegation für die Beziehungen zu den koreanischen Halbinseln. Im Europäischen Parlament vertritt er das Ruhrgebiet.  

 

Die Fragen stellten Jonathan Schneider und Najma Yari.