grußwort

Wenn Politiker die Ethik bemühen, genauer gesagt: wenn sie moralisch werden, ist immer höchste Vorsicht geboten. Wenn ein Bundeskanzler nach seiner Wahl die moralische Erneuerung verspricht oder gar verkündet, dann will er vor allem sagen: die Leute, die vor mir regiert haben, waren moralisch höchst fragwürdige Figuren. Ab heute werdet Ihr von moralischen Menschen regiert. Dass die summa moralitas ganz rasch in die summa immoralitas umschlagen kann, wussten schon die Scholastiker. In der Politik kommt hinzu: Wer die Moral als Keule gegen andere verwendet, übt sich in einer der übelsten Formen der Unmoral.

Politiker wie Gustav Heinemann oder Richard von Weizsäcker, denen kaum jemand ein sensibles Gewissen abgesprochen hat, haben so gut wie nie moralisiert. Ihre Gewissenhaftigkeit hat sich darin gezeigt, dass sie Sachentscheidungen reiflich überlegt und dann dazu gestanden haben, auch wenn ihnen der Wind ins Gesicht blies; auch darin, dass sie nie die Attitüde des moralisch Überlegenen angenommen, niemals politische Gegner moralisch angegriffen haben. Sie wussten: Wer einen Sachkonflikt moralisch auflädt, handelt unmoralisch.

Das bedeutet natürlich nicht, dass die Politik jenseits aller Ethik stattfände. Ein Politiker, der nachweisbar gelogen hat, der also in dem Augenblick, in dem er eine Behauptung aufstellte, bereits wusste, dass sie nicht stimmt, muss gehen. Aber wenn eine Partei in eine Regierungskoalition eintritt und dann nicht alles realisieren kann, was sie im Wahlkampf propagiert hat, dann ist dies nicht unmoralisch, sondern ein unvermeidbarer Teil demokratischer Regierungsbildung. Wer dann diese Partei mit Vorwürfen überschüttet, sie der Lüge oder gar des Verrats bezichtigt, missbraucht die Moral. Das Hauptlaster der Politik ist nicht die Lüge, sondern die Eitelkeit.

Politik ist für Wahrheit nicht zuständig und doch zur Wahrhaftigkeit verpflichtet. Was wahr ist, lässt sich nicht durch Abstimmung entscheiden. Politik hat weder die religiöse, noch die historische, noch die philosophische und ganz sicher nicht die naturwissenschaftliche Wahrheit zu dekretieren. Wo sie dies versucht, wird sie totalitär. Politische Entscheidungen sind nicht wahr oder unwahr, sondern richtig oder falsch. Natürlich wird eine Opposition vieles für falsch halten, was für die Regierung richtig ist. Aber bei diesem Für und Wider sind Sachargumente gefragt, nicht moralische Pauschalurteile.

Wahrhaftigkeit besteht weder in der Politik noch im Privatleben darin, dass man alles sagt, was man weiß oder denkt. Wohl ab darin, dass man nicht bewusst die Unwahrheit sagt. Demokratische Politik ist nicht denkbar ohne Verrauen. Wer einen Kandidaten oder eine Partei wählt, braucht dazu ein Mindestmaß an Vertrauen. Natürlich kann dieses Vertrauen jederzeit entzogen werden. Aber eine Demokratie, in der „die da unten“ grundsätzlich „denen da oben“ misstrauen, ist auf Dauer nicht lebensfähig. Vertrauen aber gibt es nicht ohne Wahrhaftigkeit. Daher ist es auch fahrlässig, von einer „politischen Klasse“ zu reden. Klassen haben gemeinsame Interessen. Sie misstrauen anderen Klassen. Gäbe es wirklich eine „politische Klasse“, die sich gegen eine „nichtpolitische“ oder gar „unpolitische Klasse“ zu behaupten hätte, was hätten Wahlen für einen Sinn, wenn nachher doch das gemeinsame Interesse der „politischen Klasse“ durchschlägt?

Der Streit um die Atomkraft war von Anfang an von ethischen Argumenten bestimmt. Das wichtigste lautete: Sind fehlbare Menschen, die zerstreut, leichtsinnig, müde, betrunken, depressiv, destruktiv, rachsüchtig, gewalttätig, todessüchtig sein können, auf Dauer in der Lage, mit einer so gefährlichen Energie so umzugehen, dass Katastrophen ausgeschlossen sind? Damit war keineswegs gesagt, dass die Befürworter der Atomenergie unmoralisch handelten, wohl aber, dass sie sich einer Diskussion über ihr Menschenbild stellen mussten. Und Menschenbilder haben immer auch eine ethische Komponente. Politik ist keineswegs immer moralisch. Sie ist immer auch Kampf um Macht, und wo der Wille zur Macht die Sorge um das Gemeinwohl verdrängt, ist die ethische Debatte unvermeidbar. Dann ist die Zivilgesellschaft gefragt, die Wissenschaft, die Kirchen, die Medien. Denn Politik ist immer auch moralisch ansprechbar.

Das ist der Markt nicht. Das Grundgesetz des Marktes ist der Wettbewerb. Was dort erlaubt ist oder nicht, regeln staatliche Gesetze. Und meist sind diese Gesetze auch die ethischen Grenzen. Nirgendwo sind Ethik und Recht so nahe beisammen wie im Marktgeschehen. Was nicht gesetzlich verboten ist, ist – auch ethisch – erlaubt. Der Stärkere, Geschicktere hat Erfolg. Der allzu Gewissenhafte riskiert den Misserfolg. Der Markt selbst ist moralisch nicht ansprechbar. Daher ist für Marktradikale Gerechtigkeit, was der Markt entscheidet. Entscheidet er, dass ein Mitglied im Vorstand eines Konzerns das 300-fache eines Facharbeiters verdient, so ist auch dies gerecht. Jeder Erfolg beruht für Marktradikale auf Leistung, also hat das Vorstandsmitglied 300-mal mehr geleistet.

Weil Politik immer moralisch ansprechbar ist, muss sie sagen, ob sie diese Meinung teilt, oder ob sie andere Vorstellungen von Gerechtigkeit hat und wie sie diese Vorstellungen durchsetzen will.

Dies bedeutet auch, dass der Primat der Politik eine ethische Komponente hat. Wo die Finanzmärkte und die Ratingagenturen die Richtlinien der Politik bestimmen, haben die Politiker oft zu exekutieren, was sie für falsch, ja für ungerecht halten. Und die Wähler bestrafen dann nicht die Finanzmärkte, sondern die Politiker, die doch nur der Bestrafung durch die Finanzmärkte ausweichen wollten.

Politische Ethik hat keine Chance, wo sich der Primat der Ökonomie, genauer der Finanzmärkte durchgesetzt hat. Insofern ist der Primat der Politik eine ethische Forderung. Nicht, weil die Politik moralisch sein müsste, wohl aber, weil sie moralisch ansprechbar ist, weil sie sich der ethischen Diskussion stellen muss. Sie muss sich immer der Frage stellen, ob sie dem Gemeinwohl dient, damit auch der Frage, ob sie der Ökonomie einen Rahmen setzen kann, der die Marktteilnehmer anregt, im Interesse des Gemeinwohls zu handeln. Wenn sie das ökologisch Gebotene billiger, das ökologisch Schädliche teurer macht, nimmt sie den Marktteilnehmern nicht ihre Freiheit, aber sie macht das ökologisch Nötige auch zum ökonomisch Vorteilhaften.

Spinnt man diesen Gedanken weiter und kommt zu dem Ergebnis, dass der Primat der Politik im (europäischen) Nationalstaat nicht zurückzugewinnen ist, sondern allenfalls in einer reformierten Europäischen Union, dann bekommt die europäische Einigung einen ethischen Impuls.