Günter Verheugen im Interview: Erniedrigung, Angst und die Sonne des Majdans. Das „explosive Gemisch aus Emotionen“ in der Ukraine-Krise

Sehr geehrter Herr Verheugen, Sie haben sich in den letzten Wochen mehrfach zu der Krise zwischen Russland, der Ukraine und der EU geäußert – Sie haben dabei Meinungen vertreten, die nicht unbedingt dem Mainstream entsprechen und betont, dass man immer auch die Perspektive der Russen sehen muss. Um diese Perspektive soll es auch in diesem Interview gehen – dabei allerdings nicht so sehr um geographische oder ökonomische Aspekte der Krise. Hier soll der Fokus auf dem Verhältnis zwischen Politik und Emotionen liegen.

Inwiefern wurde der Verlauf der Krise zwischen Russland, der Ukraine und der EU durch Emotionen geprägt?

Ich glaube sogar, dass die ganze Krise, mit der wir es hier zu tun haben, hauptsächlich durch Emotionen geprägt ist und nicht durch kühle Vernunft und rationales Abwägen. Wir haben es hier mit einem ganz explosiven Gemisch von Emotionen zu tun. Fangen wir an mit Russland – und ich rede jetzt mal nicht über die russische Gesellschaft – sondern über die russische Führung, deren Haltung nur emotional erklärt werden kann. Wenn man Putins Rede vor der Duma nach der Annexion der Krim sieht, war sie voller Emotionen. Und zwar in diesem Sinne: „Russland ist ein großes Land und muss anders behandelt werden als es vom Westen behandelt wurde. Wir Russen werden benachteiligt, in die Ecke gestellt und erniedrigt.“ Er vermittelte das Bild eines Menschen der sich erniedrigt fühlt – das ist emotional.
Wenn wir die Ukraine betrachten, so sind es auch hier im großen Umfang Emotionen, die das politische Handeln und das politische Klima bestimmen. Die unterschiedliche politische Orientierung in verschiedenen Teilen des Landes hat sehr viel mit der tief sitzenden Unzufriedenheit mit den politischen und ökonomischen Verhältnissen zu tun. Das ist eine tiefe Frustration, die sich in der Ukraine immer wieder entlädt. Denken Sie an die Orangene Revolution oder jetzt den Majdan.
Und wenn wir uns selber betrachten, dann ist zumindest in Deutschland auch eine sehr starke emotionale Seite festzustellen. Nämlich in dem Sinne, dass die Mehrheit der Bevölkerung nicht einverstanden ist mit der Art und Weise, wie die politische Elite sich in dieser Krise verhält. Um es ganz grob zu sagen: Die Deutschen möchten sich eigentlich lieber raushalten, wie überhaupt den Deutschen die Vorstellung gefällt, wir könnten hier in einer Art großer Schweiz leben. Das ist offensichtlich das, was die Leute wollen, während in der politischen Elite gerade zurzeit ja auch gesagt wird: Wir müssen uns mehr einmischen.

Jetzt haben sie bereits Russland, die Ukraine und Deutschland erwähnt. Ich würde gerne einen Aspekt herausgreifen: die Ukraine. Wir haben eine unglaublich lange Geschichte der Ukraine, die durch fortwährende Konflikte und große Unsicherheiten geprägt ist. Jetzt ganz aktuell ist es die „Angst vor dem kalten Winter“, in der sich die Abhängigkeit vom russischen Gas zeigt. Wie sehr prägen solche Ängste die Ukraine?

Ja, das ist relevant. Das ist die Angst vor der Verschlechterung der Lebensbedingungen. Die führt aber zu unterschiedlichen Antworten der Ukraine: Sie führt im Westen zu der ganz klaren Antwort: Wir wollen zur Europäischen Union gehören. Und zwar genau aus dem Grund, aus dem heraus auch die neuen Mitgliedsländer das gewollt haben. Eben wegen der Chance auf ein besseres, sicheres Leben. Wohingegen im Osten der Ukraine eher das Gefühl vorherrscht, dass man sich nicht von Kiew gängeln lassen darf. Russenfeindlichkeit kommt in der Ostukraine nicht gut an. Es ist also eher eine Unzufriedenheit mit dem politischen Status, den man hat. Zudem würde ich aber auch als eine unmittelbare emotionale Reaktion betrachten, was unmittelbar nach dem Sturz von Janukowytsch passiert ist. Es sind zwei Dinge passiert: Das Parlament beschäftigte sich mit der Frage der Stellung der russischen Sprache. Sämtliche sehr rechte nationale Kräfte in der Ukraine verlangten die Aufhebung der bestehenden Verträge mit Russland. Einschließlich des Schwarzmeerflotten-Vertrages, der für die strategischen Interessen Russlands von absolut zentraler Bedeutung ist. Dieses Verhalten kann nur emotional erklärt werden. Sie haben hingewiesen auf die ukrainische Geschichte, die ja genau geprägt ist von diesem pro- und anti-russischen Dualismus – das hat eine große Rolle gespielt im 2. Weltkrieg, aber auch noch danach und eben auch jetzt wieder. Wie sich zeigt ist dieser Dualismus wie alle politischen Motive die sich auf Sprache, Rasse, Kultur gründen hochemotional und hochbrisant – ganz explosiv.

Ja diese Explosivität spielt eine große Rolle in der Krise. Mit Bezug auf den pro- und anti-russischen Dualismus muss man dabei auch einen Blick auf die EU werfen. Beispielsweise das Signal, das die Politikerinnen und Politiker der EU mit ihrem Besuch auf dem Majdan sendeten. In Ihrem Artikel über das neue Buch von Joschka Fischer „Scheitert Europa“ verweisen sie auf „Stümpereien der EU“, die häufig nicht behandelt werden. Was sind diese Stümpereien?

Na gut, das sind eine ganze Menge. Die drei wichtigsten Fehler der EU sind erstens: diesen Prozess der Heranführung der Ukraine begonnen zu haben ohne der Ukraine selber eine klare verlässliche Perspektive zu geben. Das hat dazu geführt, dass sowohl in der Juschtschenko- als auch in der Janukowytsch-Zeit die Transformation der Ukraine nicht wirklich vorangekommen ist.
Nummer zwei ist, dass man es nicht für notwendig gehalten hat mit Russland über die Auswirkungen der geplanten Assoziierung auf Russland zu reden. Damit man mich richtig versteht: ich gestehe Russland kein Recht zu, Einfluss zu nehmen auf die souveräne Entscheidung der Ukraine, ob sie assoziiert werden oder Mitglied der EU werden wird. Dieses Recht hat Russland nicht. Aber Russland hat das Recht darüber informiert zu werden und auch dazu gefragt zu werden: Wie geht man mit den Konsequenzen dieser Politik für Russland um. Handelspolitische Konsequenzen und so weiter. Das ist nicht gemacht worden.
Und das dritte ist – und da kann ich nur noch mit dem Kopf schütteln – der Fall Tymoschenko. Dieser wurde sozusagen zum Testfall für die Rechtstaatlichkeit der Ukraine erhoben. Hier gilt es zu bedenken, dass die Regierung Janukowytsch im Dezember 2012 zur Unterschrift des Assoziierungsabkommens bereit war. Es ist die Europäische Union gewesen, die 2012 nicht unterschrieben hat. Da fing die Geschichte an. Und zwar wegen Frau Tymoschenko. Da möchte heute niemand gerne dran erinnert werden. Diejenigen die Frau Tymoschenko zur Ikone von Freiheit und Rechtstaatlichkeit und Demokratie erklärt haben, die sind jetzt ganz still. Damit mir keiner sagt ich bin hier einseitig, will ich hinzufügen: Selbstverständlich war der Vorwurf an die Ukraine, selektive Justiz zu betreiben, berechtigt, denn es hätte nicht nur Frau Tymoschenko vor Gericht gehört, sondern eine Menge anderer auch, das ist vollkommen klar. Der Fall Tymoschenko jedenfalls war es nicht wert, die politische Zukunft der Ukraine und der europäischen Integration davon abhängig zu machen. Der letzte Punkt: Majdan. Diejenigen, die sich auf dem Majdan in der großen Zustimmung der Massen gesonnt haben, sind leider jetzt nicht bereit auch den Preis dafür zu bezahlen. Jetzt schweigen sie ganz stille darüber. Denn natürlich haben diese Leute Erwartung geweckt, von denen sie damals schon wussten, dass die EU diese nicht würde erfüllen können.

Die Punkte, die Sie jetzt genannt haben sind Hauptprobleme in der Verständigung zwischen europäischer und russischer Politik. Was sind denn Möglichkeiten die mehr und mehr einschlafenden Kontakte aufrecht zu erhalten?

Das würde ich so nicht sagen. Ich habe es bedauert, dass der Petersburger Dialog – der jetzt vor ein paar Tagen in Sotschi hätte stattfinden sollen – abgesagt wurde. Aber an sich funktionieren die deutsch-russischen Gesprächskanäle ja noch ganz gut und es wird ja hier in Berlin ja auch schon intensiv darüber nachgedacht, wie man von dem Sanktionskurs wieder weg kommt. Das Ziel sollte sein, dass man grundsätzlich wieder darüber reden kann wie wir unser Verhältnis langfristig gestalten wollen. Voraussetzung dafür ist natürlich die Bewältigung der aktuellen Krise. Das heißt: Es muss ein Status gefunden werden in und für die Ukraine, mit dem alle leben können. Den sehe ich zurzeit allerdings nicht. Ich wirke in verschieden Organisationen daran mit Lösungen zu erleichtern. Aber ich muss sagen in dem Augenblick, in dem wir heute hier sitzen, weiß ich nicht wie der eigentliche politische Konflikt, der ja der Konflikt um die territoriale Integrität und nationale Souveränität der Ukraine ist, bewältigt werden kann. Am leichtesten natürlich, wenn Russland sagen würde: Wir mischen uns da nicht weiter ein. Ich bin aber auch gar nicht mehr sicher, ob die Nichteinmischung Russlands heute noch eine notwendige und hinreichende Bedingung zugleich ist. Möglichweise reicht das gar nicht mehr aus, wenn Russland sich nicht einmischt, weil eine Eigendynamik entstanden ist, die wir nur sehr schwer beurteilen können.
Also kurz und gut: die aktuelle Krise muss eingehegt werden. Dann allerdings glaube ich ist die Stunde gekommen, in der man sehr grundsätzlich und ehrlich miteinander darüber reden muss, was in den letzten Jahren schief gegangen ist. Wo man Putin auch mal fragen muss – wieso fühlte er sich an den Rand gedrängt, übergangen und erniedrigt? Was haben wir denn eigentlich nach seiner Meinung falsch gemacht? Wo man ganz kritisch überprüfen muss, was denn aus der sogenannten Strategischen Partnerschaft zwischen der EU und Russland tatsächlich praktisch herausgekommen ist. Die praktischen Ergebnisse sind nämlich relativ bescheiden. Und letztlich muss man fragen, wie die gemeinsame Verantwortung für die Zukunft des gesamten Kontinents wahrgenommen werden kann. Der Punkt ist ja, dass wir als EU und Russische Föderation eine gemeinsame Verantwortung haben für den gesamten Kontinent. Eine neue Teilung darf sich nicht wieder in unseren Köpfen verfestigen. Da landen wir dann bei zwei in der Zukunft zu klärenden Themen: Zum einen bei der Frage nach der Wettbewerbsfähigkeit Europas in der immer schneller werden ökonomischen Globalisierung und zweitens bei der Frage eines stabilen und verlässlichen Sicherheitssystems für Europa, das den Ausbruch neuer Konflikte in Europa verhindert.

Vielen Dank für das Gespräch!
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Felix Schenuit twittert unter @felixschenuit und bloggt hier: https://felixschenuit.wordpress.com/