handschellen oder nobelpreis? ethische aspekte von „leaking“

Was haben ein Journalist, ein US-Soldat und ein australischer Hacker gemeinsam? Sie sind Teil eines Prozesses, der sich „Leaking“ nennt. Hier liegen Belohnung und Bestrafung von „Whistleblowern“ beziehungsweise „Geheimnisverrätern“ nah beieinander. Warum sind ethisch begründete Entscheidungen und Bewertungen im Leakingprozess so schwierig?
2010 war mit den „Afghanistan War Logs“, den „Iraq War Logs“ und insbesondere den „US Embassy Cables“ das Jahr der großen WikiLeaks-Veröffentlichungen, die weltweit für Furore gesorgt haben. Doch die Deutungshoheit über WikiLeaks und Co. ist längst nicht ausgefochten: Während eine mutmaßliche Quelle der Veröffentlichungen, der Soldat Bradley Manning, in den USA in einem Militärgefängnis einsitzt, wurde WikiLeaks – wenn auch erfolglos – für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen. Eine Organisation kämpft wiederum für die Befreiung von Manning. US-Politiker verlangten andererseits den Tod Julian Assanges, dem führenden Kopf von WikiLeaks. Verschiedene Journalisten aus unterschiedlichen Ländern haben die WikiLeaks-Veröffentlichungen verwertet und Artikel sowie WikiLeaks-Titelgeschichten veröffentlicht. Handschellen und Gefängnis für Geheimnisverräter, Lob und Nobelpreis für gutes „Whistleblowing“ oder journalistische Job-Erfüllung? Die Bewertungen der Handlungen im Prozess der WikiLeaks-Veröffentlichungen könnten unterschiedlicher kaum sein. Das zeigt, dass bisher eine klassisch ethische Frage eigentlich nicht geklärt ist: Ob, wann und wie das Veröffentlichen von geheimen Informationen, das sogenannte „Leaking“, nun gut oder schlecht ist.

Öffentlicher Nutzen als Kriterium

Aus Sicht liberal-demokratischer Staaten wird kaum jemand ernsthaft bestreiten können, dass es Fälle gibt, in denen die Herausgabe geheimer Informationen zum Aufdecken von schwersten Missständen ethisch gut und richtig ist. Im Falle von Verbrechen gegen die Menschenrechte zum Beispiel. Jenseits solcher unstrittigen Fälle gestaltet sich die weitere Entscheidungsfi ndung und Beurteilung hingegen schwierig. Kirk Hanson und Jerry Ceppos schlugen schon 2006 vor, dass Leaking dann gut sei, wenn es das Verständnis der Öffentlichkeit eines Themas von öffentlichem Interesse erweitere – ohne jemandem zu schaden. Solche Kriterien der Schadensvermeidung und Nutzensteigerung für die Öffentlichkeit als „gutes Leaking“ klingen eingängig, bringen aber leider im Einzelfall nur wenig konkrete Entscheidungs- und Beurteilungshilfe. Denn die Welt des Lecks ist nicht dichotom schwarz und weiß beziehungsweise gut oder schlecht. Dafür fehlen ein gemeinsames Verständnis des „öffentlichen Interesses“ und ein Konsens über den Wert und die Reichweite von Geheimnissen. So ist auch die Trennung zwischen „privaten“ und „öffentlichen“ Angelegenheiten schwierig. Wie werden beispielsweise private Verfehlungen eines Mandatsträgers bewertet? Dürfen diese veröffentlicht werden, weil er eine öffentliche Person ist? Die Abwägung anhand der Unterscheidung öffentlich und privat fällt also schwer. Des Weiteren ist es praktisch unmöglich, die Auswirkungen der Veröffentlichung von geheimen Informationen korrekt abzuschätzen. Dafür sind die direkten und indirekten Folgen eines Lecks in einer Welt mit offenen Kommunikationsgrenzen zeitlich, sachlich und gesellschaftlich zu diffus. Teilweise entfalten geleakte Informationen erst Monate nach ihrer Veröffentlichung eine Wirkung. Manchmal ist die Bedeutung der einzelnen Information in neuen Kontexten, die der Informationsquelle vielleicht nicht einmal ersichtlich ist, nicht abzusehen. Bradley Manning (unter der Annahme, dass er die Quelle ist) hätte beispielsweise monate-, vielleicht jahrelang jede einzelne Datei prüfen und bewerten können – um letztlich trotzdem zu einem immer noch unvollständigen Bild von Nutzen und Schaden einer Veröffentlichung zu kommen. Ethisch zu handeln ist eine hochkomplexe und unsichere Angelegenheit für jeden, der erwägt, geheim gehaltene Informationen zwecks Veröffentlichung weiterzugeben.

Von der Quelle zum Brunnen

Doch damit der Unübersichtlichkeit und Unklarheit noch nicht genug. Die ethische Dimension des Leakingprozesses reduziert sich nämlich nicht auf die Quelle. Hier kommen der Ex-Hacker Assange und WikiLeaks ins Spiel. Schließlich braucht es, um in der Wasser-Metapher zu bleiben, auch noch einen „Brunnen“. Jemanden, der die Informationen aus der Quelle in den Wahrnehmungsraum der Öffentlichkeit berfördert. Schon lange verwerten Journalisten als klassische „Öffentlichkeitsbeschaffer“ an sie durchgestochene Informationen und nutzten diese für die Enthüllung staatlichen Handelns. Die Veröffentlichung der sogenannten Pentagon-Papiere, ein ehemals geheimes Dokument der US-Regierung, im Jahre 1971 ist das wohl prominenteste Beispiel. Die Journalisten publizierten aber im Regelfall nicht die Information in ihrer Rohform, also Akten, Korrespondenzen, Mitschriften etc., sondern berichteten darüber in Artikeln. Doch die technischen Möglichkeiten des Internets in Kombination mit dem mittlerweile vermehrt digital vorliegenden Rohmaterial ermöglichen genau dies. Als selbsternannter Retter des Journalismus ist Julian Assange Gesicht von WikiLeaks und der berühmteste Vertreter des Phänomens der internetbasierten Leaking-Plattformen, welche diese neuen Möglichkeiten exzessiv nutzen. WikiLeaks hat es sich zur Aufgabe gemacht, „nicht-ethisches Verhalten“ in Politik und Wirtschaft gewissermaßen in „Rohform“ der zugespielten Dokumente an die Öffentlichkeit zu bringen und somit politische Akteure und Unternehmen zu ethischem Handeln zu zwingen. Für die ethische Bewertung solcher Veröffentlichungen ist es unabdingbar zu wissen, ob durch die WikiLeaks-Veröffentlichungen Informanten gefährdet werden. Dies ist jedoch immer noch völlig unklar. Wie also können Leakingplattformen die potenzielle Gefährdung der Informanten gegen das öffentliche Interesse abwiegen, um zu einem Urteil guten Handelns zu kommen? Und dürfen sie bei einem negativen Urteil auch Daten zurückhalten zum Schutz der Quellen oder anderen? Durch das totale Moment im Transparenz- und Öffentlichkeitsanspruch WikiLeaks’ entstehen und verstärken sich somit ethisch bedeutende Problem- und Konfliktfelder. Die Veröffentlichung von Informationen in Rohform durch Leaking-Plattformen tendiert dazu, selbst bereits eine ethisch komplexe Entscheidung zu sein. Zudem werden diese Entscheidungen hinterher wiederum an völlig unterschiedlichen Wertmaßstäben gemessen, die dann dazu führen, dass einige Personen mit Gefängnis drohen, andere hingegen die Quellen und Leaking-Plattformen feiern. Im Ethik-Kontext lassen sich Entwicklungen wie das umstrittene OpenLeaks-Projekt des WikiLeaks-Aussteigers Domscheit-Berg als Rückbezug auf die technischen Aspekte der Leaking-Plattformen im Sinne einer „Dropbox“ bzw. eines „Informations-Briefkastens“ deuten. Damit entmoralisieren die Akteure auch die eigene Rolle als Leakingplattform und ziehen sich aus der Verantwortung für die in den Daten enthaltenen Informationen und die Einzelfallentscheidung über die (Nicht-)Veröffentlichung teilweise zurück.

Gesucht: Entscheidungen für die Zukunft des Lecks

Staaten werden weiterhin in steigenden Datenmengen vertrauliche Informationen digital speichern. Und solange Menschen trotz aller Verschärfungen von Sicherheitsvorkehrungen darauf Zugriff erhalten, sind sie durch unterschiedliche Wertvorstellungen auch potenzielle „Whistleblower“. Zwischen Handschellen und Nobelpreis besteht eine große ethische Grauzone, die in Zukunft aufgehellt werden muss, um einen gesellschaftlich verträglichen und Menschenrechte achtenden Umgang mit Informationen aus Lecks zu gewährleisten. Forderungen aus den Reihen der Politik nach einer generell härteren Bestrafung der „Geheimnisverräter“ wirken dabei ähnlich hilflos wie die Rufe, WikiLeaks sei eine moderne Form des Terrorismus. Genauso ist aber auch eine einseitige Verklärung WikiLeaks’ völlig unzureichend. Vielmehr müssen in einem breiten Diskurs ethisch konnotierte Fragen zum Umgang mit Lecks diskutiert werden. Dieser Prozess sollte Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Staat und Journalismus einbeziehen, um alle vom Leakingprozess indirekt oder direkt Betroffenen zu Beteiligten zu machen.