Klein, kleiner, Kleinstparteien

Kleinparteien, auch Kleinst- oder Splitterparteien genannt, fallen in den zahlreichen Diagrammen nach Wahlen in den Bereich Sonstige. Anders als bei einer Bundestagswahl können Kleinparteien in Deutschland bei der Europawahl auf begehrte Plätze im Europäischen Parlament hoffen. Der Grund: Es gibt keine Fünf-Prozent-Hürde, die es zu überspringen gilt. Der Vorteil: Für WählerInnen scheint es attraktiv, auch kleinen Parteien ihre Stimme zu schenken. Während bei einer Bundestagswahl die Stimmen für eine Partei, welche den Einzug ins Parlament nicht geschafft hat, wegfallen, freuen sich auf europäischer Ebene kleine Parteien über jede Stimme. Dennoch gibt es auch in Europa immer eine Quasi-Prozent-Hürde – nämlich der Anteil von Stimmen, mit der mindestens ein Sitz im Europäischen Parlament gewonnen werden kann. So wurden die Parteien Volt, Die Piraten und die Familien Partei Deutschlands mit jeweils 0,7 Prozent ins Parlament gewählt und sind dort mit je einem Sitz vertreten. Insgesamt sind sieben Kleinparteien eingezogen und werden in der neunten Zusammensetzung des Europäischen Parlaments, gemeinsam mit den Großen, der parlamentarischen Arbeit nachgehen. Zusammengenommen gehen somit neun der 96 deutschen Sitze im Europäischen Parlament an Kleinparteien. Auf zwei dieser Parteien wird in der Fortsetzung unserer Europa-Reihe näher eingegangen.

Eine deutsche Ausnahme?

Dass es bei der Europawahl in Deutschland keine Prozenthürde gibt, ist auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2014 zurückzuführen. Die Begründung: Im Europäischen Parlament sind stabile Mehrheiten, um zum Beispiel eine Regierung zu bilden, nicht nötig. Anders als im Bundestag würde eine Zersplitterung im Europäischen Parlament somit nicht zur Handlungsunfähigkeit führen.

In anderen Ländern gibt es eine solche Sperrklausel längst. In neun Ländern gilt beispielsweise eine Fünf-Prozent-Hürde. In Ländern wie Österreich und Schweden müssen Parteien mindestens vier Prozent der Stimmen erlangen, um ins Parlament einzuziehen – in Griechenland reichen bereits drei Prozent. Ungefähr die Hälfte der Länder hat also eine Sperrklausel, um viele kleine Parteien, also eine Zersplitterung des Europäischen Parlament zu verhindern.

In Deutschland soll es bei der Wahl 2029 ebenfalls eine Sperrklausel geben. Dies geht auf eine Einigung der europäischen Staats- und Regierungschefs aus dem Sommer 2018 zurück. Die Sperrklausel soll verpflichtend für alle Länder sein, die mehr als 35 Abgeordnete stellen. Betroffen sind Spanien und Deutschland. Ein Spielraum von zwei bis fünf Prozent bei der konkreten Ausgestaltung der Höhe der Hürde wurde den Nationalstaaten eingeräumt. Die Änderung muss im Wahlrecht verankert werden, wofür in Deutschland eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag und Bundesrat nötig ist. Schon vor der Wahl 2019 wurde versucht, eine solche Änderung des Wahlrechts durchzubekommen. Dies scheiterte allerdings an den Grünen, welche eine solch weitreichende Änderung so kurz vor der Wahl ablehnten.

Pro Sperrklausel

Die Einführung einer Sperrklausel, wie sie in vielen europäischen Ländern vorliegt, soll eine zunehmende Zersplitterung des Parlaments verhindern. Ziehen zu viele kleine Parteien ein, die teilweise nur einen Sitz haben, sind Kompromisse schwieriger zu erzielen, weil es zu viele unterschiedliche Meinungen gibt. Auch der Anschluss an eine Fraktion ist schwierig. Während bei der Bundestagswahl in Deutschland vorher klar ist, dass die Partei SPD eine eigene Fraktion bildet, sind die Fraktionen im Europäischen Parlament deutlich größer und heterogener. Zwar gibt es auch in nationalen Parlamenten Abgeordnete, die keiner Fraktion angehören – bei insgesamt 751 Europa-Abgeordneten haben Fraktionslose allerdings wenig bis keinen Einfluss. Zwar gelang es der Satirepartei Die Partei und dessen Abgeordneten Martin Sonneborn durch einige Aktionen zu einer gewissen Aufmerksamkeit zu kommen, politischen Gestaltungsspielraum hatte er aber kaum.

Eine Sperrklausel führt zwangsläufig dazu, dass Stimmen quasi ungültig, also umsonst abgegeben werden, falls es die gewählte Partei nicht über die Hürde schafft. Gibt es aber keine Sperrklausel und dafür viele fraktionslose Abgeordnete, die politisch keine Rolle spielen, wurde die eigene Stimme auch umsonst abgegeben. Außerdem muss auch in einer Fraktion versucht werden, eine Mehrheit zu organisieren, was bei vielen unterschiedlichen Parteien schwierig ist. Insbesondere wenn eine Partei nur durch eine Person vertreten wird.

Contra Sperrklausel

2014 konnten ebenfalls viele Kleinparteien ins Europäische Parlament einziehen. Das Ergebnis: Die meisten schlossen sich einer Fraktion an. Die auch 2019 wiedergewählte Partei Freie Wähler schloss sich z.B. der ALDE-Fraktion, also den Liberalen im Europäischen Parlament an. Die Ökologisch-Demokratische-Partei (ÖDP) schloss sich 2014 der Grünen-Fraktion (EFA) an. Auch andere Kleinparteien traten Fraktionen bei. Ausnahmen waren Die Partei und die NPD. Die Organisation in Fraktionen scheint also weitestgehend zu funktionieren. Schaut man sich das Abstimmungsverhalten an, spielte Fraktionsdisziplin lange Zeit nicht so eine große Rolle, wie auf nationaler Ebene. Das Europäische Parlament mit seiner weniger strengen Fraktionsdisziplin begünstigte also, dass auch einzelne Abgeordnete gegen die Fraktion stimmen konnten. Dies kommt inzwischen allerdings nicht mehr so häufig vor. Die Fraktionen stimmen inzwischen fast so geschlossen ab, wie Fraktionen in nationalen Parlamenten. Die Organisation von Kleinparteien in Fraktionen scheint also zu funktionieren und das Abstimmungsverhalten zeigt: Die Fraktionsdisziplin spielt zwar theoretisch im Europäischen Parlament nicht so eine große Rolle wie in nationalen Parlamenten – dennoch treten die Fraktionen mit ihren vielen Parteien zunehmend geschlossen auf. Trotz Kleinparteien scheint die Bildung eines fraktionellen Konsenses möglich.

Zwei dieser Kleinparteien werden in der Fortsetzung unserer Europa-Reihe genauer unter die Lupe genommen. Die Partei und die Tierschutzpartei konnten auch dieses Jahr wieder ins Europäische Parlament einziehen. Beide Parteien werden es bei Einführung einer Sperrklausel aber schwer haben, in zehn Jahren den Sprung ins Europäische Parlament erneut zu schaffen.

Ein Beitrag von Fabian Gerls

Fabian Gerls ist Chefredakteur des hammelsprung. Er studierte Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrungen konnte er unter anderem im Landtag NRW und beim Deutschen Aktieninstitut sammeln.