Medien und Moral oder: wer bestimmt, wann der Rubikon überschritten ist?

Die zunehmende Verknüpfung politischer Themen und Akteure mit moralischen Wertvorstellungen, Ideen und Normen ist ein triviales Phänomen der politischen Kommunikationskultur. Verstärkt wird diese Ethisierung der Politik auf der öffentlichen Bühne durch die massenmediale Aufbereitung in der deutschen Mediokratie. Doch welche Instanz definiert, worüber sich entrüstet und empört wird und welches moralische Fehlverhalten als belanglose Lappalie zu tolerieren ist? Ist es noch unsere Vernunft oder sind wir massenmedial moralisch fremdgesteuert?

Der Tugendterror der Medien

2011 scheiterte zu Guttenberg an seiner fragwürdigen Interpretation von Ehrlichkeit und Wahrheit, Wulffs Karriere zerbrach 2012 anlässlich seiner umstrittenen Interpretation eines glaubwürdigen und redlichen Bundespräsidenten. Auch der derzeitige Kanzlerkandidat der SPD, Peer Steinbrück, sah sich angesichts seiner enormen Nebeneinkünfte durch Honorarvorträge Korruptionsvorwürfen ausgesetzt. Nicht nur Politiker werden derzeit immer häufiger an moralischen Standards gemessen, auch in der parlamentarischen und medialen Diskussion politischer Themen findet man oftmals einen Verweis auf ethische und moralische Dimensionen: Vertraulichkeit (Wikileaks), Nachhaltigkeit (Umweltpolitik), kulturelle und religiöse Identität (Beschneidung), die Frage nach dem Beginn zu schützenden Lebens (Präimplementationsdiagnostik) und Gerechtigkeit (Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften mit der Ehe). Diese Debatten wurden von den Medien nicht nur selbstverständlich aufgegriffen, sondern aktiv gestaltet, mitunter sogar initiiert. Die Moralisierung der Medien hin zu einem medial verübten ‚Tugendterror’ ist eine unübersehbare Tendenz der heutigen Zeit. Früher definierte die biblische Theologie was moralisch richtig und was ein Sündenfall ist, Kants kategorischer Imperativ versuchte eine praktische Anleitung zum moralischen Handeln zu bieten. Doch sind die christliche Moral oder die Maxime, Handeln in ein allgemeines Gesetz verwandeln zu können, überhaupt noch aktuelle moralische Maßstäbe? Oder sind die Medien nun unsere moralische Instanz der Neuzeit?

moralische Medien – ein Paradox?

Ethisierte politische Diskurse setzen zumeist an der Devianz, an der Verletzung moralischer Standards an. All das, was keinen Skandal provoziert, fällt hingegen in der medialen Politikvermittlung nicht auf. Medienethik operiert dabei mit impliziten oder expliziten normativen ‚Standards’, deren Haltbarkeitsdauer häufig der einer Eintagsfliege entspricht. Durch die große Reichweite gewinnen die von den Medien festgesteckten Moralstandards immer stärker an Bedeutung. Normative Definitionsmacht ist somit stets auch ein soziales Steuerungsinstrument und ermöglicht eine gewisse Kontrolle der gesellschaftlichen Debatte. Argumentationslinien werden diskursivisch geformt und mit Werten und Normen unterfüttert. Die skandalfixierte Logik der Massenmedien und deren moralische Flexibilität lassen jedoch ursprünglich keine normativen Universalien zu. Moralische Prinzipien wie Menschenwürde, Minderheitenschutz, Freiheit oder auch die ‘goldene Regel der Sittlichkeit’ werden im Sinne der Auflagen- und Quotensteigerung gebogen und verformt und verkommen häufig zu polemischen, beschränkten Wertmustern, die dank des Labels ‚moralisch richtig oder falsch’ Aufmerksamkeit erregen und das Publikum aufheizen sollen. Medien tendieren somit strukturell zur Sensation und gebrauchen insofern regelmäßig Moral als normativen Aufmerksamkeitscatcher. Ob nun die massenmediale Nutzung und Verbreitung moralischer Werte und Narrationen gesellschaftlich sinnvoll oder wünschenswert ist, bleibt fraglich – unbestritten ist jedoch, dass Medien in modernen Demokratien unweigerlich zu moralischen Instanzen werden. Allein aus ökonomischem Interesse geben sie sich alle erdenkliche Mühe, die eigenen normativen Standards ihrer Zielgruppe anzupassen.

Medien als Abbild der Gesellschaft

Bereits die breit gefächerte Aufbereitung moralischer Themen und Affären in den verschiedenen Medien spiegelt die unterschiedlichen Wertevorstellungen in der Gesellschaft wider. Witterte die BILD-Zeitung zu Beginn der Guttenberg-Affäre eine außerordentliche Auflagensteigerung, stellte sie sich danach kompromisslos hinter ihren geächteten Schützling. Auch im Falle des ehemaligen Bundespräsidenten Wulff war die Medienlandschaft zwiegespalten: War Wulff der geringen Wertschätzung und gar Hohn und Spott aus dem eher bürgerlichen Lager ausgesetzt, wurde dieser Shitstorm von anderen Presse- und Funkorganen als Hetzjagd und aufgebauschte Skandalisierung seitens der intellektuellen Elite verstanden. Normative Entrüstungs- und Beruhigungsdiskurse standen sich diametral gegenüber. Moralische Normen werden demnach häufig von den Medien aufgegriffen und genutzt, jedoch nicht selbst produziert.

Massenmedial vermittelte moralische Diskurse sind ein demonstratives Abbild gesellschaftlicher Standards und Normen. Massenmedien können die Funktion eines moralischen Regulativs einnehmen. Jedoch ist Moral ein gesellschaftliches Phänomen, das nicht von oben herab verordnet werden kann, sondern sich durch die Gesellschaft selbst repliziert. Sie ist veränderbar, gibt kein strenges Korsett an richtigen und falschen Antworten vor, die universell gültig sind. Die Fähigkeiten der Medien, moralische Fragen laut zu artikulieren, Wertestandards anzulegen und Verhalten zu beurteilen, sind somit nicht zu unterschätzen – die Angst vor einer moralischen Diktatur der Massenmedien bleibt jedoch unbegründet.

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