Mission: “Politiker an das wahre Leben erinnern!”

Ein Auftrag, den sich der Bundestagsabgeordnete Jakob Maria Mierscheid auf seine Fahnen geschrieben hat. Doch wie kommt ein Parlamentarier dazu, sich für solch eine schwierige Aufgabe zu begeistern? Eine Anekdote aus dem sonst so klar strukturierten Deutschen Bundestag, wo sie so wohl kaum jemand erwarten würde. von Carina Burek

Jakob Maria Mierscheid ist SPD-Mitglied und seit dem Jahr 1979 ununterbrochen ein Mitglied des Deutschen Bundestages. Mit seinen 79 Jahren ist er außerdem auch der dienstälteste Abgeordnete der SPD. Er ist einer der typischen Hinterbänkler, der gerne mal seine Späßchen macht, um auch über die Fraktionsgrenzen hinaus gute Laune zu verbreiten. Gesehen wurde der presse- und öffentlichkeitsscheue Politiker bisher jedoch noch nie. Dies führt dazu, dass er vielerorts nur als „Phantom des Bundestags“ bezeichnet wird. Diese Zuschreibung ist jedoch mit Vorsicht zu genießen, denn wer kann dann erklären, dass es ein Phantom in die offiziellen Veröffentlichungen des Bundestags geschafft hat und wie alle anderen Parlamentarier einen persönlichen Eintrag auf der Internetseite des Bundestags besitzt? Doch damit nicht genug. Bei einem Blick in den einen oder anderen beliebten Berlin-Reiseführer ist festzustellen, dass die bundestagsintern genutzte Brücke, die die Abgeordnetenhäuser über der Spree verbindet, auch als „Jakob-Mierscheid-Steg“ verzeichnet ist. Man sollte meinen, dass so eine Ehre nur Politikern mit großen Verdiensten zuteil wird. Warum also ist diese Brücke nach einem Politiker benannt, der den meisten Menschen gar nicht bekannt ist? Hier sei den Redakteuren von Reiseführern der Tipp gegeben, dass Pressemeldungen an einem 01. April zu 90 Prozent nicht der Wahrheit entsprechen.

Geringelte Haubentauben in Mitteleuropa als Schwerpunktthema

Jakob Mierscheid hat bereits mit den großen Persönlichkeiten der deutschen Politik zusammen im Bundestag gesessen, doch in die erste Reihe hat er es nie geschafft. Sicherlich auch ein Grund dafür, dass er die Forderung aufstellte, der Plenarsaal möge doch aus Gründen der Gleichheit nur eine erste Reihe besitzen. Doch alle seine Bemühungen haben nichts genutzt, er musste immer wieder auf den ungeliebten hinteren Stühlen Platz nehmen. Vielleicht führten auch gerade diese traumatischen Erlebnisse der Zurückweisung dazu, dass Mierscheid viel lieber und öfter durch seine offenherzigen Kommentare und Veröffentlichungen auffiel, als durch seine Anwesenheit bei den Plenardebatten. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass Mierscheid gerne einmal im internen Schriftverkehr als Stänkerer dastand. Ein Meisterwerk dessen war sicherlich seine 1980 aufgestellte Forderung den Bundesrechnungshof aus Frankfurt am Main in die Eifel zu verlegen, da hier nicht nur die Luft viel besser sei, sondern auch eine strukturschwache Gegend gestärkt werde. Mierscheid selbst sagt über sich, dass für ihn die Aufzucht und Pflege der geringelten Haubentauben in Mitteleuropa und anderswo als Mittelpunkt seiner Arbeit zu sehen ist. Neben diesem würdigen Schwerpunktthema konnte er sich auch besonders für die Beobachtung des Nord-Süd-Gefälles in Deutschland begeistern. Von sich Reden machte Mierscheid jedoch eher durch das nach ihm benannte Gesetz, das 1983 in der SPD-Zeitschrift „Vorwärts“ zum ersten Mal der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Es besagt, dass sich der Zweitstimmenanteil der SPD in Prozent bei Bundestagswahlen nach dem Index der deutschen Rohstahlproduktion, gemessen in Millionen Tonnen, richtet. Klingt absurd, ist aber genial, denn diese Werte stimmten bereits bei mehreren Bundestagswahlen überein, sodass das „Mierscheid-Gesetz“ oft als Alternative zu den üblichen Wahlprognoseverfahren gesehen wird.

Ehre, wem Ehre gebührt

Doch wer ist dieser Jakob Maria Mierscheid wirklich? Ist er nun ein Hinterbänkler, der gerne aus dem Hintergrund stänkert und sich ansonsten aus der Öffentlichkeit heraushält ? Oder ist er eine fiktive Persönlichkeit, die es immer mal wieder in die Presse schafft und als Steinlaus der SPD zu sehen ist? Letzteres entspricht, was fast zu bedauern ist, der Wahrheit. Denn der Abgeordnete Mierscheid wurde 1979 von den SPD´lern Peter Würtz und Karl Haehser geschaffen, um an ihren ehemaligen Freund und Staatsrechtler Carlo Schmid zu erinnern. Mierscheid sollte ein würdiger Nachfolger werden, der seine Lebensaufgabe darin sieht, die Abgeordneten ab und zu auch an das wahre Leben zu erinnern, was durchaus auch mit viel Humor geschehen kann. Bis heute wird dieses Hologramm an Lebensfreude von dem Parteikollegen Friedhelm Wollner am Leben gehalten. Jakob Mierscheid ist sicherlich als einer der Abgeordneten zu sehen, die auf eine umfassende Selbstdarstellung setzen. Denn der Blogger Mierscheid besitzt neben einem Facebook-Account mit mehr als 1000 „Freunden“ auch ein Twitterprofil mit fast 5000 Followern. Diese Leistung spricht in der heutigen Zeit eigentlich für sich. Es scheint, als sei er mit den neuen Formen von Präsenz wohl vertrauter als manch ein Abgeordneter des Ausschusses für Neue Medien.

„So einer wie Mierscheid wird gebraucht“

Der ehemalige SPD-Fraktionsvorsitzende Peter Struck sieht Mierscheid als Bereicherung für den trockenen parlamentarischen Alltag, denn dort sind alle Beteiligten pragmatisch orientiert. Zu aller Erst gehe es um Problemlösungen, sodass es nötig ist, dass jemand das Ganze gelegentlich auch einmal hinterfragt. Immerhin traut sich ein Jakob Mierscheid auch mal unorthodoxe Aussagen zu treffen. Einen Rüffel von Franz Müntefering fing er sich 2005 ein, als er „Ulla Schmidt“ als Unwort des Jahres vorschlug. Und welcher Abgeordnete, außer Mierscheid, würde wohl einen Ehrensold für Horst Seehofer nach dessen vorübergehender Tätigkeit als Staatsoberhaupt nach dem Wulff-Rücktritt fordern? Für solche kleinen Anekdoten ist der Abgeordnete immer wieder zu haben und folgt so nur seiner Mission: „Die Politiker an das wahre Leben zu erinnern“!