Politiker und ihre Geschichte(n)

„The first word in Presidency is PR“, sagen Politikberater in den USA. Um in der Mediendemokratie erfolgreich zu sein, müssen Politiker nicht nur eine Geschichte erzählen – sie müssen auch ihre Geschichte erzählen. Das dient der Selbstinszenierung, hat aber auch Erklärungskraft für politische Entscheidungen. Von Fabian Zacharias

Dem Politologen Richard Lau zufolge konnten Anfang der 1990er Jahre nur zehn Prozent der US-amerikanischen Wähler die Position ihres Präsidenten zur Todesstrafe wiedergeben. Gleichzeitig seien aber 99 Prozent der Befragten im Bilde darüber gewesen, dass George Bush keinen Brokkoli mochte. Unabhängig von allen statistischen Fragen ist dies ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie wichtig Persönliches und Image für Politiker und ihre Wähler sind – und sei es die Frage nach dem Brokkoli. Im Optimalfall lassen sich dabei inhaltliche Aspekte mit der Person verknüpfen. Das scheint trivial, ist es in der Praxis aber meist nicht.

Szenenwechsel: Ullrich Sierau ist Oberbürgermeister der Stadt Dortmund. Die „Süddeutsche Zeitung“ ließ er unlängst wissen, dass er für den Solidarpakt II nicht viel übrig habe. Das System des Paktes sei „pervers“. Im Osten wisse man „nicht wohin mit dem Geld. Und bei uns im Ruhrgebiet brennt der Baum“, echauffierte sich der OB. Seine Kollegen aus den Nachbarstädten entlang der Ruhr pflichteten Sierau bei. Die Ruhr-Kommunen würden die teuren Kassenkredite quasi direkt in den Osten der Republik weiterreichen. Dort würde man es sich, so der Subtext, mit den Zuschüssen lauschig warm machen. Dafür müssten die ohnehin klammen Gemeinden tief im Westen bluten – und zwar noch auf Jahre.

Biografien als erklärendes Moment

Unabhängig von der Frage, inwieweit Sieraus Kritik einer inhaltlichen Prüfung standhalten würde, konnte man am Rande der Debatte auch etwas über die Person Sierau lernen: Der Dortmunder OB ist nämlich in Halle an der Saale geboren. Er kommt also ursprünglich aus dem Süden des heutigen Bundeslandes Sachsen-Anhalt. Aufgrund seiner Herkunft stehe Sierau aber ja nun wirklich nicht im Verdacht, eine plumpe Ost-West-Diskussion vom Zaun zu brechen. Mit dem einfachen Hinweis auf Sieraus Geburtsstadt hatten seine Aussagen an Schlagkraft gewonnen. In diesen Kontext gestellt interessierte es nur am Rande, dass die Ruhr-Kommunen an der Finanzierung des Solidarpakts II gar nicht direkt beteiligt sind.

Es ist ein typisches Muster: Die Politiker-Biografie bietet Erklärungen und Interpretationsansätze an für Positionen und Verhaltensweisen. Das Publikum kann politische Handlungen so besser verstehen. Doch die persönliche Geschichte der Entscheider bietet nicht nur die Basis für Deutung und Interpretation durch andere – sie ist auch eine Quelle für die Begründung einer Entscheidung durch den Politiker selbst.

Über die Personalisierung der Politischen Kommunikation ist schon viel geschrieben worden: In einer multi-komplexen Welt wird auch Politik komplizierter und unübersichtlicher. Für die meisten Menschen macht sie nur einen Bruchteil ihres Alltags aus – wenn überhaupt. Zwar tritt diese Tatsache in der Debatte oft in den Hintergrund. Sie relativiert aber die Kritik an der zunehmenden Personalisierung. So beklagenswert man diese Entwicklung finden mag: Inhaltsentleerung ist damit zumindest nicht automatisch verbunden. Denn: Inhalte werden an Personen geknüpft. Sie müssen glaubwürdig und authentisch für bestimmte Konzepte, Positionen und Ideen stehen – wie eine Marke. Die persönliche Geschichte ist unzweifelhaft  Teil dieser Marke. Die Biografie kann ganz gezielt vom Akteur selbst zur Erklärung genutzt werden, weil sie untrennbar zu seiner Persönlichkeit gehört. Der Politiker erzählt dann seine Geschichte. Oder er lässt sie erzählen.

Ein Instrument – für beide Seiten

Es lassen sich dafür unzählige Beispiele finden: Willy Brandt, der sich als Kanzler um den „Wandel durch Annäherung“ und die Deutsche Einheit verdient machte, war vor seiner Kanzlerschaft Regierender Bürgermeister von Berlin. Als im August 1961, in der Folge des Mauerbaus, eher zaghafte Reaktionen aus Bonn und von alliierter Seite kamen, protestierte Brandt lautstark. Er sprach am 16. August vor Berliner Bürgerinnen und Bürgern von der blutenden „Wunde eines Volkes, die verkrustet werden soll durch Stacheldraht und vernagelte Stiefel“. Zuvor hatte er sich schon an US-Präsident Kennedy gewandt. Adenauer dagegen kam erst über eine Woche nach dem Bau der Mauer in die Stadt. Diese Erfahrungen und sein – gerade im direkten Vergleich – entschlossenes Auftreten rund um den Mauerbau machten Brandts Engagement in der deutsch-deutschen Frage in jedem Falle glaubwürdiger. Die Authentizität auch von symbolischen Handlungen mag zur Popularität Brandts einen entscheidenden Beitrag geliefert haben.

Deutlich wird die Bedeutung der eigenen Geschichte auch bei einem anderen für die Deutsche Einheit wichtigen politischen Akteur: Hans-Dietrich Genscher, vielleicht “der” bundesdeutsche Außenminister, lebte bis 1952 in der ehemaligen DDR. Erst nach seinem Jura-Studium verließ er das Land über West-Berlin. Schon sieben Jahre später war er Fraktionsgeschäftsführer der FDP im Deutschen Bundestag, um ab 1969 dem Bundeskabinett anzugehören. Mindestens in der Retrospektive wird immer wieder auf seinen Geburtsort verwiesen – vor allem im Zusammenhang mit der Diplomatie in der deutsch-deutschen Frage. Zufall ist wohl, dass es sich dabei ebenfalls um Halle an der Saale handelt. Ähnliches gilt übrigens auch für Brandts Berater Egon Bahr, der im thüringischen Treffurt zur Welt kam.

Doch auch in der jüngeren Vergangenheit finden sich eindrucksvolle Beispiele für die Öffentlichkeitswirksamkeit von biografischen Hintergründen für das politische Handeln. Als Ursula von der Leyen 2005 Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend wurde, kam man in der Presse um den Hinweis auf ihre sieben Kinder nur schwer herum. Die Eignung von der Leyens für das Amt wurde nicht direkt angesprochen – die Verbindung zwischen Privatleben und Familienministerium konnte der Wähler selbst herstellen, wenn er denn wollte.

Aber auch für die gezielte Nicht-Nutzung der eigenen Biografie lassen sich Beispiele finden: Obwohl die Herkunft Angela Merkels in den Medien immer wieder thematisiert wurde, war die Kanzlerin spätestens seit ihrer Wahl bemüht, anderes in den Vordergrund zu stellen. Joschka Fischer ging mit seiner Biografie selbstbewusster um – notgedrungen, weil sie vom politischen Gegner immer wieder thematisiert wurde. Noch 2001, als Fischer schon drei Jahre Bundesaußenminister war, musste er auf Drängen der Opposition im Bundestag bekennen, er habe der Gewalt abgeschworen.

Die Erklärkraft des Brokkolis für die Politik George Bushs ist sicher begrenzt. Es zeigt sich aber, dass vermeintlich unpolitische Aspekte der Persönlichkeit, seien es bestimmte Vorlieben oder Teile der Biografie, immer wieder auch Gegenstand des Politischen werden – als erklärendes Moment, als Mosaikstein beim Image-Aufbau, als Ansatz für Kritik. Wir groß der Einfluss solcher Faktoren auf Person und Position auch tatsächlich sein mag: In Zeiten von wachsendem Zeitdruck, härterem Kampf um die Aufmerksamkeitsressourcen der Wähler und zunehmender Personalisierung werden gute persönliche Geschichten immer wichtiger. Nicht zuletzt, um auch mit Inhalten durchzudringen.