Vor dem Wählen vorwählen

Vor dem Wählen vorwählen

“Vorwahlen” – diesen Begriff assoziieren wir meist direkt mit dem amerikanischen Wahlsystem. Dort wird über KandidatInnen der Parteien schon vor der eigentlichen Wahl entschieden. Vorwahlen sind in den USA je nach Bundesstaat verschieden und durch ihre Unterschiedlichkeit schwer zu fassen. Der Gedanke, Vorwahlen auch in Deutschland einzuführen, wirkt da eher befremdlich. Warum das Wahlsystem noch komplizierter machen?

In der deutschen Politik gibt es vielschichtige Repräsentationslücken (hammelsprung-Artikel vom 26.11.2018). Neben der tatsächlichen Unterrepräsentation bestimmter Personengruppen in Parlament und Regierung geht es immer auch um das Gefühl der BürgerInnen, das “Sich-Repräsentiert-Fühlen”. Wer keine Möglichkeit sieht, repräsentiert zu werden, will irgendwann auch nicht mehr repräsentiert werden. Die Frage nach Repräsentation ist damit letztlich eine Frage nach der Zukunft der Demokratie. Wahlen in Deutschland sind aktuell sozusagen Wahlen ohne Auswahl. Denn über die Besetzung von Listen- und Wahlkreiskandidaturen entscheiden fast immer parteiinterne Gremien – in Hinterzimmern und auf Parteitagen. Selten gibt es dort wirklichen Wettbewerb und es bleibt meist bei akklamatorischen “Krönungswahlen”.

Mit der Einführung von Vorwahlen erhalten die BürgerInnen basisdemokratische Rechte darüber, wen sie wählen und wer sie repräsentiert. Ziel (von Vorwahlen) soll es dabei nicht sein, ein anderes Wahlergebnis zu erzwingen. Die Repräsentationslücke ließe sich nämlich keineswegs mit der Ziehung einer repräsentativen Stichprobe schließen. Zu wichtig ist bei Repräsentation das Gefühl. Daher wäre es auch nicht schlimm, wenn am Ende einer Vorwahl dieselben Personen auf dem Wahlzettel stehen und ins Parlament einziehen. Viel wichtiger ist, dass die BürgerInnen darüber entscheiden und alle die gleiche Chance bekommen, über die Besetzung von Listen und Wahlkreiskandidaturen zu entscheiden. Politische Debatten würden verändert und die basisdemokratische Mitbestimmungslücke geschlossen. Vorwahlen würden Krönungswahlen ablösen und einen lebendigen Ort des Austauschs und der Diskussion von Alternativen schaffen.

Nun lässt sich in der Theorie viel fordern. Doch wie könnten Vorwahlen in der Praxis erfolgsversprechend durchgeführt werden? Um nicht für weitere Hürden zu sorgen, müssen Vorwahlen unkompliziert und niedrigschwellig sein und zwar in drei wichtigen Fragen:

Wer wählt?
WählerInnen müssen umfassender und frühzeitiger an der Zusammensetzung der Parlamente beteiligt werden. Das heißt, aus allen BürgerInnen müssen prinzipiell auch VorwählerInnen werden können. Dabei gibt es zwei Möglichkeiten:

Entweder können alle WählerInnen bei allen Parteien mitbestimmen. Auf der einen Seite wäre eine solche Ausgestaltung organisatorisch leicht umsetzbar. Denn während in den USA eine Registrierung notwendig ist, könnte in Deutschland darauf verzichtet werden. Das ohnehin vorhandene WählerInnenverzeichnis kann als VorwählerInnenverzeichnis dienen. Auf der anderen Seite wäre taktisches Wählen möglich. WählerInnen könnten bei von ihnen abgelehnten Parteien für schwächere KandidatInnen stimmen, um diesen Parteien zu schaden.

Oder die WählerInnen müssen sich vor oder während der Vorwahl für eine Partei entscheiden. Nur für diese bestimmen sie dann über die KandidatInnen. Dadurch wird sichergestellt, dass eine bewusste Entscheidung für eine Partei erfolgt und taktisches Wählen ausgeschlossen. Wahlrechtlich birgt das Herausforderungen, weil die Wahl weiterhin geheim sein muss. Für welche Partei gewählt wird, würde jedoch in der ein oder anderen Weise dokumentiert. Nicht zuletzt, um die Wahlteilnahme bei Vorwahlen anderer Parteien zu verhindern. Fragen des Datenschutzes blieben dabei offen.

Wer wird gewählt?
Wahlkreis- und Listenaufstellung sind eng miteinander verzahnt. Nicht selten bekommt nur wer eine Wahlkreiskandidatur hat auch einen Listenplatz. WählerInnen müssen daher zwingend über beides entscheiden können. Bei Wahlen müssen in Deutschland die fünf verfassungsrechtlichen Grundsätze gewahrt bleiben. Demnach müssen Wahlen allgemein, unmittelbar, frei, gleich und geheim sein. Damit Wahlen unmittelbar sind, dürfen keine Gremien zwischengeschaltet sein. Starre Listen, wie derzeit vorhanden, können also durchaus kritisch diskutiert werden. Es sind Delegierte auf Parteitagen und in Hinterzimmern, die zwischen WählerInnen und KandidatInnen stehen. Wird bei Vorwahlen tatsächlich demokratisch über Alternativen entschieden, verändern sich auch die Anforderungen an KandidatInnen. Aktuell entscheidet vor allem parteipolitisches Kapital, also aktives, langjähriges Parteiengagement, die Anwesenheit auf Parteiveranstaltungen und ein Sich-Sehen-Lassen. Bei Vorwahlen würden innerparteiliche Orientierungen in den Hintergrund treten und eine zu den BürgerInnen gerichtete Orientierung an Bedeutung gewinnen.

Wie wird gewählt?
Was für jede Wahl gilt, gilt auch für Vorwahlen: der Grundsatz der Gleichheit von BewerberInnen und WählerInnen muss gewahrt bleiben. Um kleinen wie großen Parteien die gleichen Chancen zu geben, sollten Vorwahlen parteiunabhängig durch die Bundes- und LandeswahlleiterInnen organisiert werden. KritikerInnen mögen an dieser Stelle die finanziellen Kosten ins Feld führen. Wie groß zusätzliche Kosten ausfallen, hängt letztlich stark von der räumlichen und organisatorischen Ausgestaltung ab. Neue Formen der Stimmabgabe könnten geschaffen werden und noch dazu gewährleisten, dass WählerInnen alle die gleiche Chance haben, an Wahlen teilzunehmen. Aktuell kann in Deutschland nur an einem Sonntag oder gesetzlichen Feiertag zwischen 8 und 18 Uhr gewählt werden, so wollen es die Bundestags- und Europawahlordnungen. Gewählt wird in festen Wahllokalen. Was aber wäre, wenn künftig aus einem Wahltag eine Wahlwoche werden würde und wenn eine Wahl per App, im Supermarkt oder am Bahnhof möglich wäre? In der wissenschaftlichen Literatur werden große Effekte innerhalb kurzer Zeit eher angezweifelt. Aber klar ist doch: Es beeinflusst, wer an einer Wahl teilnimmt, und kann zudem die hohen finanziellen Kosten senken. Doch egal, wie eine Vorwahl letztlich ausgestaltet ist – wichtig ist ein zentraler Wahlzeitraum. Von Partei zu Partei unterschiedliche Wahltermine würden nämlich nur zu einer großen Unüberschaubarkeit führen.

Mit der Einführung von Vorwahlen steht nichts mehr zwischen BürgerInnen und KandidatInnen und damit auch nichts mehr zwischen BürgerInnen und ihren Abgeordneten. Die Schwelle zur politischen Beteiligung wird gesenkt. Politischer Wettbewerb würde die Demokratie beleben und Repräsentation stärken. Krönungswahlen hätten dann keinen Platz mehr. Vorwahlen nun ausschließlich oder zunächst in den Bundesländern einzuführen, würde Versuchslabore schaffen und somit Vertrauen der BürgerInnen zerstören, statt aufbauen. Die Akzeptanz von Neuerungen im Wahlrecht würde darunter leiden. Sollen Vorwahlen erfolgreich sein und die Zukunft der Demokratie retten, muss es sie deshalb auf allen Ebenen geben. Mit Mut, Innovationsgeist und Vertrauen zu den WählerInnen, aber vor allem mit Vertrauen in die eigene Gestaltungsfähigkeit im politischen Wettbewerb, könnten Vorwahlen vielleicht schon bald zum Alltag gehören.

Ein Beitrag von Marcus Lamprecht und Jonathan Schneider.

Noch Fragen? Eine ausführliche wissenschaftliche Analyse finden Sie in Kürze auf Regierungsforschung.de.

Marcus Lamprecht studierte Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Dort war er von 2013 bis August 2018 im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) aktiv. Seit September 2018 ist er im Vorstand des studentischen Bundesverbandes fzs (freier zusammenschluss von student*innenschaften).

Jonathan Schneider ist Chefredakteur des hammelsprung. Er studierte Politikwissenschaft und Psychologie in Heidelberg und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrung sammelte er u.a. in TV- und Radio-Redaktionen sowie bundespolitischen Institutionen.