wählen? wen denn? – die empfundene gleichheit politischer parteien aus spieltheoretischer sicht

Während sich die Geister der politischen Elite Deutschlands an Sachfragen zu Stuttgart 21 oder zur Notwendigkeit eines Ausstiegs aus der Atomenergie scheiden, überkommt Ottilie Normalverbraucherin mehr und mehr ein ganz anderer Eindruck: Ihr ist es im Grunde egal, wer die nächste Wahl gewinnt, denn aus ihrer Sicht macht das keinen großen Unterschied. Dass vermutlich ein größerer Prozentsatz der Deutschen ihre Einschätzung teilt oder zumindest nachvollziehen kann, ist aus demokratietheoretischer Sicht natürlich schade und moralisch-wertethisch auch „nicht gut“. Gleichwohl ist die empfundene Ambivalenz politischer Parteien sowohl politikwissenschaftlich als auch sozialpsychologisch hochgradig nachvollziehbar.

Das Eisverkäufer-am-Strand-Modell

Das von dem amerikanischen Wirtschaftswissenschaftler Harold Hotelling entwickelte Eisverkäufer-am-Strand-Modell ist gut geeignet, die Entstehung dieser Ambivalenzen abzubilden. Wie alle spieltheoretischen Ansätze geht Hotelling zunächst von einem geschlossenen System aus, das aus Spielern, Spielregeln und einem Spielziel besteht. Er unterscheidet zwei Arten von Spielern, zum einen sieht er Eisverkäufer (übertragen auf die Situation einer Wahl wären das die Parteien) und zum anderen Strandbesucher (Wähler). Hotelling geht davon aus, dass an einem schönen Tag viele Strandbesucher ein Eis essen möchten und sich insofern an dem Angebot der vorhandenen Eisstände orientieren werden. Einige Eisstände sind für sie besser erreichbar als andere. Manche Strandbesucher werden allerdings auch weitere Wege erwägen, zum Beispiel dann, wenn sie mit einer bestimmten Eisbude bereits gute Erfahrungen gemacht haben. Andere werden vielleicht gar kein Eis essen, insbesondere dann nicht, wenn ihnen der Weg zum nächsten Eiswagen als zu weit erscheint. Aus der Sicht der Eisverkäufer besteht das Spielziel darin, möglichst viel Eis zu verkaufen, während die Strandbesucher in erster Linie bestrebt sind einen schönen Tag zu verbringen. Eis essen ist für sie eine Option, aber nicht zwingend erforderlich, um dieses Ziel zu erreichen.

Vom Strand auf die politische Bühne

Das Interessante an Hotellings Modell ist nun nicht die verbale Variation, die Parteien zu Eisverkäufern, Wähler zu Strandbesuchern und Wahlen zu „einem schönen Tag“ macht. Interessant ist, dass sich mit seinem Modell sehr gut zeigen lässt, wie sich im Zuge einer Konkurrenzsituation in einem geschlossenen System (schönes Wetter, voller Strand) die Eisverkäufer positionieren: nämlich in der Mitte, wo ihr Einzugsbereich und demnach auch ihre Chance, möglichst viel Eis zu verkaufen, am größten ist. An unserem Modellstrand ist also nicht davon auszugehen, dass sich zwei Eisverkäufer langfristig mittig auf jeweils einer Hälfte positionieren. Vielmehr werden sie mit der Zeit eine Position wählen, in der beide im Zentrum des Strandes nebeneinander stehen. Übertragen auf die Situation vor einer Wahl heißt das: Parteien werden sich immer so positionieren, dass sie sowohl ihr Stammpublikum bedienen, und zusätzlich auch mit anderen „Verkäufern“ um gemeinsam erreichbare Stimmen konkurrieren können. Der Kampf um zusätzliche potenziell erreichbare Wähler führt dabei an den Rändern des Strandes für die sich dort befindenden Besucher zu einer unbefriedigenden Situation. „Ihr“ Eisverkäufer schenkt ihnen nicht mehr genug Aufmerksamkeit (die Positionierungsmaßnahmen der Partei sprechen diese Besucher also nicht mehr an). Sie werden nun erwägen, gar kein Eis zu essen und die von ihnen besuchten Strandabschnitte werden jetzt für neu hinzukommende Eisverkäufer attraktiv.

Folgt man Hotellings Modell, kann beispielsweise der Erfolg der Linkspartei in den letzten Jahren sehr gut mit dem relativen Rechtsruck der SPD erklärt werden. Die Grünen, die von allen fünf politisch relevanten Parteien in Deutschland über die stabilste Wählerstruktur („Stammkunden“) verfügen, blieben davon vergleichsweise unberührt. Gegenwärtig bieten demzufolge in Deutschland fünf Eisstände den Strandbesuchern die Möglichkeit zur Erfrischung. Ein Problem ist, dass auch zahlreiche andere Anbieter auf dem Erfrischungsmarkt aktiv sind, die allerdings kein Eis verkaufen. Der Linkspartei könnte man dies beispielsweise unterstellen, wenn man ihre Motivation bedenkt, zu Wahlen anzutreten ohne das Ziel zu verfolgen, Regierungsverantwortung zu übernehmen. Sie haben daher zwar eine Lizenz für einen Eisstand, verkaufen dort aber gar kein Eis.

Erklärungspotenzial?

Nun ist das Anwenden ökonomischer Erklärungsmodelle auf Parteien und Wahlen natürlich an sich ein alter Hut und die üblichen Kritikpunkte daran – „Politik ist nicht Persil“ und „Wähler sind keine Kunden“ – sind hinlänglich oft geäußert worden. So sehr sie stimmen, so wenig wird dadurch aber das Erklärungspotenzial solcher Modelle eingeschränkt. Modelle sind eben keine exakten Abbilder der Wirklichkeit. Sie vereinfachen vielmehr einen Ausschnitt von Wirklichkeit zugunsten bestimmter Regeln und zulasten weniger relevanter Ausnahmen. Die Qualität von Modellen ergibt sich folglich nicht aus der Anzahl der Kritikpunkte, die sich aufgrund der Vernachlässigung von Ausnahmen anbringen lassen, sondern aus der letztendlichen Gültigkeit der von ihnen hervorgehobenen Mechanismen. Das Eisverkäufer-am- Strand-Modell von Hotelling wird dem Anspruch, wahrgenommene Ambivalenzen in der Orientierung von Parteien auf dem Wählermarkt zu erklären, insofern ganz ausgezeichnet gerecht. Für Ottilie Normalverbraucherin reduziert all das weder die empfundene Ambivalenz politischer Parteien, noch ihre letztendliche Gleichgültigkeit hinsichtlich des bevorstehenden Wahlausgangs. Gegebenenfalls wird die Motivation ihrer Wahl- und Politikverdrossenheit so aber nachvollziehbarer. Nun ist initiales Verständnis demokratietheoretisch natürlich keine Lösung. Aber immerhin ein Beitrag zur Definition des Problems und insofern vielleicht ein guter Anfang.

 

Dr. Melanie Diermann

hat Politikwissenschaft, Psychologie sowie Kommunikations- und Medienwissenschaften studiert und wurde 2010 zur Doktorin der Staatswissenschaften promoviert. Sie ist Mitinhaberin der Kommunikationsagentur ruhrgebietskind.de und Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten.