wikileaks 2.0?

Der König ist tot, es lebe der König! Während WikiLeaks immer mehr ins Reich der Vergessenheit abtaucht, macht eine andere digitale Bewegung mit ähnlichen Zielen von sich reden: Anonymous. Doch handelt es sich dabei wirklich um virtuelle Robin Hoods oder doch nur um gelangweilte Teenager, die den Nervenkitzel suchen?

 

2010 war das Jahr von WikiLeaks. Das Internetportal nahm eine exponierte Position in der medialen Berichterstattung ein. Kaum ein Monat verging, in dem Julian Assange nicht mit einer neuen skandalösen Veröffentlichung streng vertraulicher oder gar geheimer Dokumente aufwarten konnte. Auf der ganzen Welt wurden er und seine Webseite dafür als digitale Freiheitskämpfer bejubelt – ja sogar für den Friedensnobelpreis 2011 vorgeschlagen. Doch Mitte des Jahres, auf dem medialen Höhepunkt der WikiLeaks-Berichterstattung, drehte sich auf einmal der Wind und WikiLeaks schlug Leck. Gegen Julian Assange wurde wegen angeblicher Vergewaltigung in Schweden Haftbefehl erlassen und für WikiLeaks brach auf massiven Druck der USA hin, die vor allem unter der Veröffentlichung der diplomatischen Depeschen schwer gelitten hatten, ein Unterstützer nach dem anderen weg. Mastercard, PayPal und VISA weigerten sich weiterhin Spenden für WikiLeaks weiterzuleiten und Amazon verbannte das Portal von seinen Servern. Aber trotz dieser Krise ging das Portal nicht unter, denn ein neuer Akteur eilte dem sinkenden Schiff zur Hilfe. Unter der Bezeichnung Anonymous formierte sich im Netz Widerstand gegen das teils harte Vorgehen der Unternehmen – noch dezentraler und noch aggressiver als es das hierarchisch gegliederte WikiLeaks bislang vermochte. Viele WikiLeaks- und Anonymous-Sympathisanten stellten freiwillig ihre Computer für Vergeltungsaktionen zur Verfügung. Mit einer Reihe von Distributed Denial of Service (DdoS)-Attacken – mutwillig herbeigeführten Überlastungen von Systemen, mit dem Ziel diese arbeitsunfähig zu machen – wurden unter anderem die Webseiten der betreffenden Unternehmen angegriffen und lahmgelegt. In der Folge dieser Aktionen erhielt Anonymous viel mediale Aufmerksamkeit und entwickelt sich immer mehr zu einer politisch motivierten, sozialen Bewegung.

Die Politisierung der Scientology-Gegner

Die WikiLeaks-Affäre war für Anonymous ein Katalysator, der den Anstoß für die Entwicklung von einer kleinen, lose verkuppelten Gruppierung hin zu einer digitalen Bewegung lieferte. Ursprünglich geht Anonymous auf verschiedene Imageboards zurück. Auf diesen Webseiten können Bild- und Textdateien hochgeladen und diskutiert werden. Wer dabei seinen Namen nicht nennen möchte, taucht unter dem Pseudonym Anonymous auf. 2008 erst als Spaß- und Scherzgruppierung gegründet, entwickelte sich Anonymous schnell zu einer Organisation mit politisch-motivierten Zielen. Zuerst richteten sich diese insbesondere gegen die Praktiken der Chur ch of Scientology, die ein auf YouTube veröffentlichtes internes Video verbieten lassen wollte. Mit zahlreichen Aktionen, sowohl in der digitalen als auch in der anlogen Welt, protestierte Anonymous gegen diese vermeintliche Einschränkung der Redefreiheit. Ein erstes mediales Echo in Form von zahlreichen Rezeptionen in der Blogosphäre und auf digitalen Fachwebseiten war der neuen Bewegung sicher.

Die Politik der unbestimmten Masse

Seitdem hat Anonymous massiv an Zulauf gewonnen, denn Partizipation ist das oberste Gebot der digitalen Aktivisten. Überall im Netz kursieren frei verfügbare Propaganda- und Rekrutierungsvideos, mit denen sich die Organisation zu Aktionen bekennt und für neue Mitglieder wirbt. Eine Studie der amerikanischen Soziologie-Professorin Gabriella Coleman belegt die Heterogenität von Anonymous. Ganz gleich ob Hacker, Geek, Ex-Scientologe, Webdesigner oder Physikprofessor, jeder kann teilnehmen und jeder kann mit Hilfe von sozialen Netzwerken, Chats und Foren neuen Aktionen initiieren – alles anonym versteht sich. Die Protestaktionen richten sich meist gegen bestimmte Organisationen, Unternehmen oder staatliche Institutionen. Das Ziel dabei ist im weitesten Sinne immer Freiheit – inzwischen ergänzt durch Transparenz und soziale Gerechtigkeit. Auf Grund der organisatorischen Offenheit und heterogenen Zusammensetzung der Bewegung divergieren die Ziele allerdings oft, was sich auch in den Aktionen ausdrückt. Die digitalen Proteste, deren Schlagzahl seit der WikiLeaks-Affäre drastisch erhöht wurde, reichen von Aktionen gegen Sony und diverse Cybersicherheits-Unternehmen, über Angriffe auf Neonazi-Webseiten bis hin zu Operationen gegen ganze Staaten wie Tunesien oder Zimbawe, die in irgendeiner Art und Weise Ansätze von Internetzensur betreiben oder gegen Hacker vorgehen. Allen Protestaktionen gleich ist das pathetische Auftreten von Anonymous, die immer mehr ein Selbstverständnis als Retter der Demokratie pflegen. Eine Mischung von Elementen aus der Graphic Novel „V wie Vendetta“ und der Film-Trilogie „Matrix“ ist dabei charakteristisch für die Eigendarstellung der selbst ernannten digitalen Freiheitskämpfer.

Die vermeintlichen Retter gefährden ihr eigenes Projekt

Für die Demokratie sind diese Proteste aber nur bedingt hilfreich, denn die Schwelle zwischen digitalem Sit-In mittels DdoS-Attacken und grobem Vandalismus sind denkbar knapp. Die digitalen Möchtegern-Robin-Hoods verfolgen zwar teilweise hehre Ziele, umgehen dabei aber alle demokratischen Mechanismen. Viel eher versuchen sie mit illegalen Mitteln über möglichst öffentlichkeitswirksame Operationen an der Meinungsbildung mitzuwirken, statt den steinigen und langwierigen Weg durch die juristischen und politischen Institutionen zu gehen. Aus moralischer und ethischer Sicht ist dieses Vorgehen höchst bedenklich, denn allzu oft kommen bei diesen Protesten auch Unbeteiligte unter die Räder. Statt einfacher Boykott-Aufrufe und rechtsstaatlich angemessenem politischen Engagement, wird eher mit ein paar Mausklicks auf dem heimischen Computer auf die unliebsamen Unternehmen, Organisationen und Institutionen eingedroschen. Politische Legitimation ist so nicht zu erfahren, vielmehr zwingt es den Staat zum handeln – aber auf eine andere Art und Weise, als sich das die Aktivisten wohl wünschen dürften. Anonymous muss daher den Weg zurück in die Legalität finden und darf nicht länger unnötige staatliche Restriktionen provozieren. Dass Computeraktivisten auch auf legalem Weg Einfluss auf die politische Entscheidungsfindung ausüben können, hat eine Organisation bereits eindrucksvoll vorgeführt: der Chaos Computer Club.