„empört euch!“

In vielen europäischen Ländern protestierten zahlreiche Jungakademiker diesen Sommer friedlich, aber energisch, gegen soziale Missstände. Was waren die Ursachen dafür, welche Rolle spielt die EU dabei, warum blieb in Deutschland alles ruhig und kann die Bundesrepublik deshalb als Vorbild zur Konfliktlösung dienen?
Im Oktober 2010 veröffentlichte der ehemalige französische Widerstandskämpfer und KZ-Überlebende Stéphane Hessel (94) das Kurzwerk „Indignez-Vouz“ – „Empört Euch“, in dem er dazu aufrief jegliches Unrecht, und sei es nur gefühlt, nicht hinzunehmen und sich gewaltlos gegen jede Form von Missständen zu engagieren. Ein halbes Jahr nach der Veröffentlichung gingen in vielen EU-Ländern zahlreiche junge Menschen auf die Straße, um friedlich – mit Ausnahme von England – gegen soziale Missstände, Perspektivlosigkeit, hohe Arbeitslosigkeit und eine Vernachlässigung durch die Politik zu protestieren. Stéphane Hessel war nicht der Begründer dieser Bewegung, aber er gab der Jugend einen Namen: Die Empörten!

Egal ob Spanien, Frankreich, Portugal, Griechenland oder Italien, die Probleme sind sehr ähnlich und wurden durch die Finanzkrise erheblich verstärkt. In all diesen Ländern stieg die Jugendarbeitslosenquote auf 27 bis 38 Prozent, in Spanien sogar auf 45 Prozent. Dabei waren es vor allem die gut qualifizierten Jungakademiker, die zum Protest aufriefen. Sie sehen sich mit der Tatsache konfrontiert, trotz guter Ausbildung kaum Chancen auf Arbeit zu haben. Und falls sie doch einen Job finden, ist dieser oft befristet und schlecht bezahlt. Es herrscht die Angst, dass man den Lebensstandard der Eltern nicht mehr halten kann, was nach wie vor als Indiz für eine gelungene persönliche aber auch gesellschaftliche Entwicklung gedeutet wird. Der Glaube, dass die Politik die Probleme lösen kann, ist sehr gering. Ihr wird vorgeworfen, nur noch innerhalb einer Machtelite zugunsten der Banken zu entscheiden, weshalb sich die Staaten hoch verschulden und als Folge die Sozialausgaben im Zuge drastischer Sparprogramme gekürzt werden.

 

Ein europäisches Problem

 

Aber der Protest darf nicht nur als nationales Phänomen, sondern muss als europäisches Problem gesehen werden. Die Protestler prangern das Verhalten der Europäischen Union an, weil es schwer ist, die Entscheidungen von Gremien nachzuvollziehen, die nicht erreichbar zu sein scheinen. Das zeigt sich auch darin, dass die Proteste an symbolträchtigen Plätzen stattfanden, wie dem Puerta del Sol in Madrid oder vor der Bastille in Paris. Nicht aber in Brüssel oder Straßburg. Trotzdem begrüßen die Protestler die Idee einer europäischen Union und erhoffen sich eine europäische Lösung für ihre Probleme. Stattdessen entstand durch die EU-Rettungsfonds der Eindruck, nicht gerettet, sondern übernommen zu werden, ohne dabei auch nur ansatzweise die nationalen Probleme in den Griff zu bekommen. So herrscht zunehmend das Gefühl vor, Europäer zweiter Klasse zu sein. Sie hoffen, dass die EU bei allen notwendigen Sparprogrammen nicht vergisst, dass die Entwicklung von nationalen Demokratien und wirtschaftlichem Aufschwung oft mit sozialem Aufstieg und sozialer Gerechtigkeit verbunden war. In Deutschland steht dafür nach wie vor die soziale Marktwirtschaft. Aber in der EU spürt man derzeit nicht viel von positiver Entwicklung und Gerechtigkeit.

 

Kann Deutschland als Vorbild dienen?

 

Jein. Deutschland hat mit neun Prozent eine deutlich geringere Jugendarbeitslosenquote als die meisten anderen Länder in Europa. Das liegt vor allem daran, dass Deutschland bei der Ausbildung besondere Formen der Kooperation zwischen Wirtschaft und Staat hat, die viele andere Länder nicht haben und die dazu beitragen, Jugendarbeitslosigkeit vorzubeugen. Dazu zählen etwa der Ausbildungspakt, bei dem der Staat die Wirtschaft bei der Schaffung von Ausbildungsplätzen finanziell unterstützt, das duale Berufsbildungssystem, eine Mischung aus Schule und praktischer Berufserfahrung und das sogenannte Übergangssystem von der Bundesagentur für Arbeit, bei dem Jugendliche, die keinen Ausbildungsplatz gefunden haben, besser für die Wirtschaft qualifiziert werden sollen. Trotz dieser Maßnahmen ist gerade bei jüngeren Erwerbstätigen die atypische Beschäftigung ein Problem. Das heißt, dass immer mehr befristete Arbeitsverträge, Teilzeitverträge, geringfügige Beschäftigungsverhältnisse oder Leiharbeit angeboten werden. 2010 waren mehr als ein Drittel aller Jugendlichen in solchen Beschäftigungsverhältnissen. Auf ganz Deutschland gerechnet ist es sonst nicht einmal jeder sechste. Daraus ergibt sich, dass das Risiko arbeitslos zu werden bei jungen Erwerbstätigen deutlich höher ist als bei älteren Arbeitnehmern. Es gäbe also trotz besserem Berufsbildungssystem auch hier Grund zu Protest, der aber ausbleibt. Das liegt in erster Linie daran, dass Jugendproteste oft von Studenten ausgehen, wie man im Rest von Europa beobachten kann. Auch die deutsche 68er-Bewegung entstand aus einer Studentenbewegung heraus. Während aber in vielen anderen Ländern Europas kaum Jobs für Jungakademiker vorhanden sind, existiert in Deutschland eine viel bessere Perspektive. Nur rund zwei bis drei Prozent aller Akademiker in Deutschland sind arbeitslos. Dementsprechend gibt es in Deutschland bei dieser Gruppe trotz zunehmender atypischer Beschäftigung keine vergleichbaren Zukunftsängste wie in Südeuropa. Hier herrscht weder das Gefühl den Lebensstandard der Eltern nicht erreichen zu können, noch von Europa im Stich gelassen zu werden. Im Gegenteil ist es ja Deutschland, das einen hohen Beitrag dazu leistet die anderen Länder zu unterstützen. Alles in allem ist die gesamtwirtschaftliche Situation trotz Finanzkrise wesentlich komfortabler als im restlichen Europa. Trotzdem darf man die Situation nicht schönreden. Auch in Deutschland gibt es Proteste der Jugend gegen die Politik. Sie zeigen sich aber vor allem in der Wahlbeteiligung. Bei den 18- bis 25-Jährigen liegt sie stets deutlich unter 50 Prozent. Viele sehen in den etablierten Parteien keine echte Alternative für sich und werfen ihnen vor, keine Lösungskonzepte für soziale und wirtschaftliche Fehlentwicklungen zu haben.

 

Appell für mehr Europa

 

Eine engere Kooperation in den jeweiligen südeuropäischen Ländern bei der Berufsbildung zwischen Politik und Wirtschaft scheint nicht nur äußerst sinnvoll zu sein, sondern auch notwendig. Hier könnte Deutschland beratend zur Seite stehen. Dafür brauchen die angeschlagenen Länder aber nachhaltige Wachstumskonzepte, damit in die wirtschaftliche und soziale Struktur investiert werden kann und somit neue Arbeitsplätze entstehen. Damit würden auch neue Perspektiven für die Jugend und neues Vertrauen in die Handlungs- und Konfliktlösungsfähigkeit der Politiker geschaffen. Aber nur einer starken und gemeinsam agierenden Europäischen Union kann dies gelingen. Sie muss klar machen, dass sie mehr als eine Währungsunion ist, sondern vielen eine Chance auf ein besseres Leben ermöglichen kann, ohne dabei die Souveränität der Einzelstaaten einzuschränken. Oder wie Stéphane Hessel sagt: „Es ist höchste Zeit, dass Ethik, Gerechtigkeit, nachhaltiges Gleichgewicht unsere Anliegen werden. Es ist eine Botschaft der Hoffnung, dass die Gesellschaften unserer Zeit Konflikte durch gegenseitiges Verständnis in wachsamer Geduld werden lösen können – auf der Grundlage unabdingbarer Rechte, deren Verletzung unsere Empörung auslösen muss.“