Der Kampf um die Deutungshoheit

Das Regieren mit „Bild, BamS und Glotze“ ist vorbei. Die Frage nach der Deutung politischer Vorhaben ist gleichzeitig wichtiger und komplexer als je zuvor. Wie Menschen über Dinge denken wird auch fernab klassischer Öffentlichkeiten geprägt – im Netz. von Markus Lewitzki

Woran denken Sie bei „Hartz IV“? An ein „erfolgreiches Reformprojekt“ oder an „misslungenen Sozialabbau“? Politische Kommunikation ist immer auch Kampf um das Bild in den Köpfen, der Kampf um sprachliche und konzeptionelle Deutungshoheit über Begriffe, Erklärungen und Zusammenhänge. Die Entwicklung des Begriffs „Reform“ macht dies beispielhaft deutlich. Vom positiven zukunftsgewandten Begriff hat er sich spätestens mit der Debatte um „Hartz-IV“ gewandelt: Er ist nunmehr eng verknüpft mit Kürzungen, Zukunftsangst und Verunsicherung. Doch wer regieren will, muss mit dieser (Be-)Deutung von Begriffen aktiv und erfolgreich umgehen – „Sprachlosigkeit führt zu Machtverlust.“ (Karl-Rudolf Korte) Deutungs- und Erklärungshoheit zu erlangen ist für politischen Erfolg von zentraler Bedeutung. Dieses Unterfangen ist wichtiger und komplexer als je zuvor. Gleichzeitig hat die Erklärungs- und Deutungskraft von Parteien, Regierungen und Leitartiklern massive Konkurrenz bekommen. Im Internet, oftmals nur lose verkoppelt mit massenmedialer Berichterstattung und Regierungs-Öffentlichkeitsarbeit, entstehen aktive Netzwerke, in denen weitreichende und prägende Deutungsprozesse ablaufen. Der für die Politik offenbar ziemlich unerwartete Gegenwind beim Thema „ACTA“ hat dahingehend gezeigt: Beim Kampf um dieses Bild in den Köpfen ist in Zeiten der digitalen Gestaltungsöffentlichkeiten das Spektrum der konkurrierenden Deutungsangebote ausgeweitet worden. Heute ist eine große Vielfalt von digital vernetzten Akteuren neuer Teilnehmer am Wettkampf um die Erklärung von Politik und Ereignissen.

ACTA: Kritik und Proteste

ACTA („Anti-Counterfeiting Trade Agreement“) ist ein passendes Beispiel dafür. Angedacht und bereits weitestgehend fertiggestellt als Handelsabkommen mit den Zielbereichen Urheberrechtsverstöße und Produktpiraterie fand es in der breiten Öffentlichkeit kaum Widerhall und schien ohne größere Probleme ratifiziert zu werden. Doch im Netz rumorte es seit langem. Aktionsbündnisse und Netzaktivisten diskutierten und kritisierten das Projekt intensiv, während ACTA weiter vorangetrieben wurde. Letztlich zeigte sich eine große Organisationsfähigkeit der Kritiker: Anfang 2012 spülten von mehreren Zehntausend Menschen unterstütze Demonstrationen die in den Netzwerken vorherrschende negative Konnotierung des Themas auch in die massenmediale Öffentlichkeit. Dies wirkte. Deutschland und einige europäische Nachbarn stoppten die schon geplante Ratifizierung.

Digitale Diskussionen als Deutungsprozesse

In den Entstehungsprozessen von ACTA wurde von Seiten der Entscheider eine kommunikative Lücke gegenüber der Öffentlichkeit belassen. Solch eine Lücke füllt sich in Zeiten der Echtzeitkommunikation schnell mit alternativen Deutungsangeboten. Das Netz bietet in immer wirksamerer und weitreichender Form die Möglichkeit zur Beschäftigung mit politischen Vorhaben. Letztlich fördert dies diskursive Prozesse, bei denen in Netzwerken Deutungen angestrebt, etabliert und über öffentlichkeitswirksame Maßnahmen wie Demonstrationen an Medienprozesse gekoppelt werden können. Konkret: In dem als Schutzvorhaben deklarierten ACTA wurden von Kritikern unter anderem Gefahren durch Einschränkungen der Innovations- und Meinungsfreiheit ausgemacht sowie ein undemokratischer Verlauf des Entstehungsprozesses angeprangert. ACTA bekam damit den „Geschmack“ einer Kampferklärung an Meinungsfreiheit, Innovationskraft und Datenschutz. Das Erzeugen eines solchen „Framings“ von politischen Inhalten war in diesem Fall ein Produkt der Netzdiskussionen. Dortige Aktivitäten tragen heute zu Verschiebungen von Framings und Deutungen bei. Denkt man beim Thema „Piraten“ beispielsweise seltener an „Freibeuter“ auf Segelschiffen oder „Produktpiraterie“, sondern oft an Politikneulinge in Parteiform, hat auf der anderen Seite der Einsatz der Netzgemeinschaft gegen ACTA zu einer sich verbreitenden Negativierung des bis dato kaum geframten Begriffs geführt.

Was kann Politik daraus lernen?

Die EU-Kommission führt die Proteste gegen ACTA immer noch auf „unzureichende Informationspolitik“ von Seiten der EU zurück. Dies kann angesichts der jahrelangen fundierten Begleitung des Prozesses durch viele Akteure nicht überzeugen. Vielmehr hat die Politik es versäumt, in einem breiten und ergebnisoffenen Prozess die inhaltliche Ausgestaltung und kontextuelle (Be-)Deutung eines solchen Vorhabens zu ermitteln. Politik zu erklären und in Deutungszusammenhänge zu stellen ist heute mehr denn je zentraler Bestandteil für öffentliche Zustimmung und Legitimität. Dabei muss gesellschaftliches Wissen in den Politikprozess verstärkt aufgenommen werden – Dialog statt Monolog ist gefragt. Auch wenn im Netz die Fallstricke bis hin zum „Shitstorm“ überall gespannt sind: Die gefährlichste Taktik in einer Welt der Dauerkommunikation ist das Nicht-Kommunizieren. Die Politik wird es nicht vermeiden können, Reformen und Vorhaben zukünftig besser zu begründen, sie stärker in Deutungsangebote einzubetten, selbst lernbereiter zu werden und dabei Verständnis für veränderte Deutungsprozesse in Netzwerken zu entwickeln. Denn woran die Mehrheit der Bevölkerung beispielsweise beim Thema „Urheberrecht“ denkt ist noch nicht ganz ausgemacht: „Beißreflex der Industrie zum Schutz von veralteten Besitztümern“ oder „fairer Ausgleich zwischen Urheber und Nutzer“? Im Netz sei es bereits heute schwierig – so Sascha Lobo – den Begriff Urheberrecht neutral zu verwenden, zu viel „gefährlicher Unfug“ sei in dessen Namen bereits getrieben worden. Solche Beispiele können lehrreich sein. Denn wenn ein Projekt, eine Idee oder ein Gesetzesvorhaben mehrheitlich negativ konnotiert sind, ist es oftmals zu spät, um hinreichende Unterstützung dafür zu gewinnen. Und das kann sich die Politik in Zeiten von großen Zukunftsprojekten nicht mehr leisten, deren Bild in den Köpfen noch längst nicht finalisiert ist. Oder: Woran denken Sie bei „Euro-Rettungsschirm“ und „Energiewende“?