Gibt es auch guten Populismus, Herr Lewandowsky?

Vor der Europawahl machte sich Angst vor dem Vormarsch der Populisten breit. Der ganz große Erfolg populistischer Parteien blieb jedoch aus. Aber was ist Populismus eigentlich und was unterscheidet Rechts- und Linkspopulismus? Darüber haben wir im vierten Teil unserer Serie zur Europawahl mit dem Populismus-Experten Dr. Marcel Lewandowsky gesprochen.

Wenn wir auf den Europawahlkampf blicken: Was würden Sie sagen, wie populistisch war der Wahlkampf?

Lewandowsky: Im Grunde genommen hat jeder Wahlkampf ein Stück weit populistische Elemente. Frank Decker hat einmal gesagt: „Wo Demokratie ist, ist auch immer Populismus“. Was wir aber im Europawahlkampf gesehen haben, ist eine stärkere Polarisierung als früher. Wir hatten zum Teil einige Parteien auf der einen Seite, wie beispielsweise in Deutschland die Grünen und auch die SPD, die einen dezidiert pro-europäischen Wahlkampf geführt haben. Auf der anderen Seite hatten wir eine Parteienfamilie, zu der auch die AfD gehört, die man generell als populistisch klassifizieren kann, und die diesen Populismus bei der Europawahl auch gegen Europa ausbuchstabiert hat. Sie haben also ganz deutlich gemacht, dass sie weniger europäische Integration wollen und die „Anti-Eliten-Karte“ gegen Brüssel gespielt.

Was versteht man denn genau unter dem Begriff Populismus?

Lewandowsky: Dem gängigen Konzept zufolge gibt es zwei Dimensionen, die Populismus definieren: Auf der einen Seite ist er gerichtet auf ein mit einem einheitlichen Willen ausgestattetes Volk. Das ist das, was Jan-Werner Müller „Volksgeist“ nennt. Populismus sagt, es gibt ein Volk, das sind „wir hier unten“ und wir wollen mit einer Stimme sprechen. Auf der anderen Seite gehört zu Populismus die Abgrenzung gegenüber dem politischen Establishment, den etablierten Parteien, Politikern und Institutionen, denen unterstellt wird, dass sie den Volkswillen nicht verstehen, gegen ihn arbeiten, eigeninteressiert, korrupt sind. Populismus ist deshalb im Grund genommen wie Mudde und Kaltwasser herausgearbeitet haben, ein moralisches Konzept. Also das gute Volk gegen die schlechten Eliten.

Trifft das sowohl auf Rechts- als auch auf und Linkspopulismus zu?

Lewandowsky: Rechts- und Linkspopulismus muss man trennen. Man kann das ganz grob in exklusiven und inklusiven Populismus unterscheiden. Exklusiver Populismus bedeutet, dass das „Wir“ darüber definiert wird, wer alles nicht dazugehört: Migrantinnen und Migranten, Menschen mit bestimmter sexueller Orientierung und so weiter. Inklusiver Populismus bedeutet, dass der Volksbegriff über den möglichst großen Einschluss aller Gruppen definiert wird. Und das könnte man sehr grob vielleicht auch als Unterschied zwischen linkem und rechtem Populismus ausmachen. Was die beiden eint, ist diese Haltung von dem „wir hier unten“ und dem „Wir“, das benachteiligt ist – auch politisch. Hier findet dann eine Form der Mobilisierung gegen das Establishment statt.

Populismus scheint momentan fast schon ein Trendwort in den Medien zu sein. Haben Sie als Wissenschaftler das Gefühl, dass der Begriff überverwendet wird und teilweise oft auch falsch?

Lewandowsky: Ja. Und das ist ein Riesenärgernis (lacht). Das eine ist, dass es in der Alltagssprache gern verwendet, wenn man politisch debattiert. Das andere ist die Verwendung im politischen Betrieb – was uns nicht passt, ist populistisch. Jüngstes Beispiel: Kevin Kühnert und seine Äußerungen zur Vergesellschaftung von Schlüsselbetrieben. Von denen kann man halten, was man möchte. Sie mögen vielleicht ökonomisch unvernünftig oder politisch problematisch sein, aber sie sind nicht populistisch. Das hat mit Populismus gar nichts zu tun.

Nach der Europawahl wurde viel über das Abschneiden der AfD gesprochen und von einer Spaltung Deutschlands. Wie ist das AfD-Ergebnis einzuordnen?

Lewandowsky: Es gibt in Deutschland durchaus ein Ost-West-Gefälle, was die Wahl angeht. Das hatten wir aber auch schon bei der letzten Bundestagswahl und das scheint sich auch zu verfestigen. Sie haben auch eine Art Stadt-Land-Gefälle bei der AfD – und zwar sowohl in West- als auch in Ostdeutschland. Die Ergebnisse der AfD in Leipzig sind andere als die der AfD in der sächsischen Schweiz. Und da stellt sich natürlich die Frage, woran das liegt.

Können Sie uns das erklären?

Lewandowsky: Da gibt es mehrere Erklärungsmodelle. Was die Wahl der AfD aber sehr gut erklärt, ist auf der einen Seite tatsächlich die rechte politische Einstellung. Das ist also nicht einfach ein diffuser Protest aufgrund von strukturellen Bedingungen, sondern man kann sehen: Das, was die AfD politisch fordert, wird auch gewollt. Da gibt es eine Nachfrage. Und auf der anderen Seite gibt es jüngere Arbeiten, die zeigen: Populismus ist nicht nur ein Angebot von Parteien, sondern Populismus gibt es auch als Einstellungsmerkmal. Deshalb muss man vorsichtig sein, die Wahl der AfD trotz der Unterschiede zwischen Ost und West und auch trotz der Unterschiede innerhalb des Ostens allein mit strukturellen Fragen vor Ort zu verengen.

Würde jemand, der in Deutschland die AfD wählt, in Frankreich auch Rassemblement National wählen?

Lewandowsky: Das wäre zu einfach gedacht. Es gibt schöne Arbeiten, etwa von Rooduijn, die untersuchen, was der gemeinsame Nenner von Wählerschaften ist. Da kann man sehen, dass die Wählerschaften rechtspopulistischer Parteien sich im europäischen Vergleich zum Teil recht stark unterscheiden. Etwa hinsichtlich des sozialen Hintergrunds, des Bildungsgrades oder des Einkommens. Zwei Dinge sind jedoch ähnlich: starkes politisches Misstrauen und rechte Positionen in Migrationsfragen. Das kann man für den allergrößten Teil der Wählerschaft rechtspopulistischer Parteien in Westeuropa feststellen. Die Einstellungsebene erklärt es also. Die Milieus der Wähler zwischen den einzelnen Ländern sind zum Teil aber unterschiedlich. Es sind nicht einfach die Arbeiter und Abgehängten.

Aber in Frankreich sind es die Arbeiter, die früher sozialistisch gewählt haben und nun Rassemblement National beziehungsweise Marine Le Pen wählen?

Lewandowsky: In Frankreich ist das richtig. In Deutschland ist es aber etwas komplexer. Hier kommt ein großer Teil der Wähler aus der Arbeiterschicht, ein Großteil aber auch nicht. Man kann nicht sagen, dass das die neuen Arbeiterparteien sind. Das funktioniert nicht. Sie sind in der Lage, in bestimmten protestorientierten Segmenten zu gewinnen, und bei Rassemblement National kommt noch hinzu, dass die Arbeiter auf der sozioökonomischen Ebene ihrer Partei – also den Sozialisten – nicht mehr vertrauen. Die sozialistische Partei hat sich einem eher wirtschaftsliberalen Kurs angeschlossen und das hat in Frankreich zum Teil zu einer großen Entfremdung geführt. Außerdem gibt es in Frankreich ohnehin ein sehr elitistisches politisches System, das viel weniger durchlässig ist als in Deutschland. Die Rekrutierung der Parteien erfolgt dort zum Beispiel viel stärker aus Eliten. Und das muss man in Frankreich nochmal stärker berücksichtigen.

Zum Abschluss: Hat der Populismus auch gute Seiten?

Lewandowsky: Das muss man differenziert beantworten. Die Tatsache, dass populistische Parteien entstehen, übt Wettbewerbsdruck auf andere Parteien aus. Wenn populistische Parteien in bestimmten Wählersegmenten Stimmen abgreifen, dann sind die anderen Parteien gefordert, darauf zu reagieren. Und wenn wir sagen, wir nehmen ernst, dass Populismus auch bedeutet, dass man bestimmte Vorstellungen und Wünsche an die Demokratie hat, dann könnte das durchaus eine Inspiration sein, auch demokratiepolitische Strategien zu entwickeln. Das könnte in Richtung von mehr Beteiligung, stärkerer Transparenz oder von mehr Durchlässigkeit in den Prozessen sein.
Das andere ist eine normative Frage: Wir können sehen, dass der Wahlerfolg bei rechtspopulistischen Parteien mit steigender Wahlbeteiligung zusammenhängt. Rechtspopulisten mobilisieren also ihre Leute und das teilweise auch aus dem Nichtwählerspektrum. Das normative Problem ist also: Was ist uns lieber: ein Bürger, der nicht wählt oder ein Bürger, der populistisch wählt? Diese Frage lasse ich jetzt einfach mal so stehen.

Vielen Dank für das Gespräch

Dr. Marcel Lewandowsky vertritt im Sommersemester 2019 die Professur für Public Policy und Landespolitik am Institut für Politikwissenschaft der Universität Duisburg-Essen. Seit 2013 ist er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politikwissenschaft, insbesondere Vergleichende Regierungslehre an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Themenbereichen Populismus, politische Parteien und Demokratieforschung im deutschen und internationalen Vergleich.

Die Fragen stellten Lina Wattad und Tim Frehler

Mit Volt, der Tierschutzpartei oder Martin Sonneborns Satirepartei Die Partei konnten bei der Europawahl in Deutschland auch kleine Parteien Erfolge feiern. Über das Für und Wider einer Sperrklausel geht es im fünften Teil unserer Serie zur Europawahl.