Politik m(M)acht Geschichte

Nach einem Wort des Ideenhistorikers Isaiah Berlin ist „Geschichte“ vor allem ein Bild, das wir uns von der Vergangenheit in unserem Kopf machen. Wie aber gelangen diese Bilder in die Köpfe? Wenn wir diese Frage stellen, gibt es Erklärungen. Erlebnisse und Erfahrungen, Erzählungen von Angehörigen oder Angelesenes sind dabei ebenso zu beachten wie Einflüsse von Medien, von öffentlichen Gedenkveranstaltungen, von Filmen und historischen Romanen. Viele Einflüsse, die Geschichtsbilder prägen, sind das Resultat von geschichts-, erinnerungs- und gedenkpolitischen Handlungen. Diese gehen auf bewusst handelnde Akteure zurück, die das kollektive Geschichtsbild beeinflussen wollen und es prägen können. Verkürzend sprechen wir gerne vom kollektiven Gedächtnis und suggerieren, es sei entstanden, irgendwie gewachsen oder plötzlich und unerwartet, gleichsam auf rätselhafte Weise existent.

Dabei machen immer wieder aufbrechende Deutungskonflikte deutlich, dass Geschichtsbilder erzeugt werden und oftmals die Folge politischer Einflussnahme sind. Parteien unterhalten Archive, historische Kommissionen, betreiben Traditionspflege und beleben nicht selten fast vergessene Auseinandersetzungen. Sie revitalisieren Geschichte und wollen so die Deutung von Gegenwart und/ oder Zukunftsvorstellungen – geronnene Erfahrungen und perspektivisch sich öffnende Ziele – beeinflussen. Im Nationalstaat war diese Prägung leichter als in multikulturell strukturierten Gesellschaften, die vielfältige Erinnerungen zusammenführen und sich zur pluralistischen Multiperspektivität bekennen.

Nur allzu klar wird dabei rasch, dass die Entstehung von Geschichtsbildern das Ergebnis kultureller Auseinandersetzungen ist, die nicht nur ein allgemeines Interesse an der Geschichte oder die Bemühung um Geschichtsbewusstsein spiegeln, sondern auf ein wichtiges Politikfeld verweisen: die Geschichtspolitik. Sie proklamiert Vielfalt, Toleranz, Gelassenheit, beschwört andererseits immer wieder Leitkultur, Wertepräferenz, Grundkonsense, die in der Regel im Rückgriff auf die Geschichte nicht nur illustriert, sondern auch begründet und gerechtfertigt werden. Gemeinsamkeiten, so wird behauptet, seien auch Ausdruck von Erinnerungs- und Geschichtskultur, die zugleich dem Schulunterricht oder dem Studium aufgegeben wird und nicht selten als Kanon in Lehrplänen oder Staatsbürgertests aufscheint.

In den Blick der Politikwissenschaft, die die Formung von Geschichtsbewusstsein durch Erinnerungs- und Gedenkpolitik analysiert, rücken somit Prozesse, in denen Geschichtsbilder beeinflusst, verfestigt oder gar erzeugt werden. Geschichtsunterricht verliert im Vergleich mit Gedenkveranstaltungen, bei denen politische Gedenkreden anlässlich von Jahrestagen gehalten werden, an Bedeutung. Deutlich wurde dies im Zusammenhang mit der Bundesversammlung, die am 18. März 2012 Joachim Gauck zum Bundespräsidenten wählte. Das Datum war zufällig festgelegt worden, denn niemand konnte voraussehen, dass Christian Wulff so zurückträte, dass die Neuwahl auf den 18. März fiel – den Tag der ersten demokratischen Volkskammerwahlen 1990 und den Jahrestag des Beginns der Revolution von 1848, den Jahrestag der Ausrufung der Mainzer Republik 1793. Diesen Zusammenhang erschloss erst die Rede des Bundestagspräsidenten, der zugleich den Zufall nutzte, um auf eine bis dahin provisorische Ausstellung auf dem Friedhof der 1848 getöteten und in Berlin-Friedrichshain beigesetzten Aufständischen verwies. Nun werde vermutlich immer an einem 18. März der deutsche Bundespräsident gewählt und damit diese wichtige Wahl in einen demokratiegeschichtlichen Zusammenhang gerückt, der von Lammert gewünscht und auch erhofft sei. Das war Geschichts- und Erinnerungspolitik in einem Guss. Auch Gauck lenkte den Blick auf deutsche Geschichte und beschwor auf eine Weise wie vor ihm nur Gustav Heinemann neben den schwarzen auch die weißen Stränge deutscher Vergangenheit. Es waren Politiker, die Zusammenhänge herstellten und eine neue historische Meistererzählung, das berühmte historische Narrativ, formulierten. In anderen kulturellen Kontexten wären ihre Verknüpfungen kaum verstanden worden – dafür sind uns in Deutschland historische Kontexte fremd, die anderen Gesellschaften – und nicht selten den durch deren Kultur geprägten Zuwanderern – viel bedeuten. Der 20. Juli ist der Tag des Attentats auf Hitler, in Südamerika handelt es sich um einen Jahrestag, der mit dem „Befreier“ Simon Bolivar verknüpft ist. Der 11. September ist – um ein anderes Beispiel zu nennen – für uns im Westen der Jahrestag des Anschlags auf das World-Trade-Center im Jahre 2001. Es könnte auch der Jahrestag der Öffnung der ungarischen Grenze 1989 oder der Jahrestag Allendes im Jahre 1973 sein. Ihren historischen, politischen und auch historisch-pädagogischen Bedeutungsgehalt erlangen diese Tage durch Deutung, durch Besinnung, durch ein Heraustreten aus dem Alltag. Was das bedeutet, hat Theodor Heuss, der erste deutsche Bundespräsident, mit seiner Rede zum 20. Juli 1954, Richard von Weizsäcker dann am 9. Mai 1985 anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes gezeigt. Roman Herzog hat in seiner Amtszeit den 27. Jahrestag zum Erinnerungstag an die Opfer nationalsozialistischer Gewaltherrschaft erklärt und die Verengung auf einen „Holocaust-Gedenktag“ nicht verhindern können.

Dies zeigt: Den Sinn der Geschichte vermitteln zunehmend Medien, die Deutungen der Politiker verbreiten, Jahrestage zum Anlass für semidokumentarische Spielfilme nehmen und so den Boden dafür bereiten, dass wir der Geschichte in der öffentlichen Reflexion einen Sinn zuerkennen. Wir rechtfertigen Geschichte dann etwa durch die Behauptung, Herkunft sei Zukunft. Ebenso plausibel ließe sich behaupten, die Zukunft sei vor allem ein Kind der Gegenwart. Aber solch ein präsentistischer Satz macht sich nicht so gut wie die Beschwörung von Traditionen, die Normen und „gemeinsame Werte“ begründen, die das jüdisch-griechisch-römisch-christlich geprägte Abendland beschwören und unter der Hand Ausgrenzungen und Inklusionen bieten, die nicht selten Handlungen und Verhaltensweisen prägen.

Damit aber ist man bei dem Kernproblem der Geschichtspolitik. Denn in der Regel dient jede Beschwörung der Vergangenheit und jede Berufung auf die Geschichte der Legitimierung von politischen Positionen in höchst gegenwärtigen Auseinandersetzungen. Es geht dabei um das Heute, nicht um das Gestern. Deshalb muss immer wieder nicht nur gefragt werden, wie sich Geschichtsbilder im Kopf formen, sondern auch wer sie prägt und nutzt im Kampf um Meinungen und Überzeugungen und nicht zuletzt um die gesamtgesellschaftliche Willensbildung.

In der Politik geht es angeblich vor allem um Macht. Sie gründet sich nicht auf Gewalt, sondern auf Überzeugung. Aktiven Politikern aber geht es deshalb um mehr als um Macht, die sie bereits besitzen. Ihnen geht es um Machterhalt, um die Behauptung ihrer Stellung in der Zukunft durch Begründung, durch Identifikationen mit ihren Zielen und ihren Verhaltensweisen. Sie heben in der Regel ihre Bereitschaft zur Zukunftsgestaltung hervor, betonen ihre Verantwortung für zukünftige Generation, für das Klima der Zukunft, für die Umwelt und verweisen dabei auf Geschichte. Selbst bei einem Umbruch wie dem Ausstieg aus der Atomkraft kommt ein Politiker nicht ohne den Rückgriff auf Geschichte aus, um „die Menschen draußen im Lande“ zu überzeugen. Deshalb kommt der Geschichte in der Politik keineswegs eine – wie der Publizist Peter Münch behauptete – „vergleichsweise unbedeutende Rolle“, sondern in der politischen Rhetorik sogar eine zentrale Rolle zu. Dann macht sich die politisch instrumentalisierbare Deutung der Vergangenheit gut. Im politischen Geschäft ist Vergangenheit deshalb keine „Kategorie von minderem Wert“. Unversehens wird „Geschichte“ zum Gegenstand der Politikwissenschaft, die sich mit der Geschichtspolitik ein neues Untersuchungsfeld erschließt – die kritische Analyse inszenierter Erinnerung, politisch geprägten Gedenkens und politischer Rede, die durch die Deutung der Vergangenheit Emotionen wecken will und Identifikationen, aber auch Ausgrenzungen vornimmt.