Du hast den Farbfilm vergessen

“Alle Frauen auf dem Bild sind rot markiert.” (Foto: BMI)

Du hast den Farbfilm vergessen

Es sind stets die gleichen Bilder: Männer über 40 in schwarzen oder dunkelgrauen Anzügen, wahlweise mit Streifen oder Karos. Ob am Verhandlungstisch von Freien Wählern und CSU nach der bayrischen Landtagswahl oder in der Führungsriege des Bundesinnenministeriums. Frauen, junge Leute und Menschen mit Migrationshintergrund sind in deutschen Parlamenten und Regierungen unterrepräsentiert.

Es wirkt als würde der Farbfilm fehlen. Wer nun denkt, dies wären Fotografien aus ungünstigen Perspektiven oder bloß Einzelfälle, dem sei folgendes verdeutlicht: Unter den über 4.000 BewerberInnen um ein Bundestagsmandat fanden sich nur ein Viertel Frauen und unter den Abgeordneten haben nur 8 Prozent einen Migrationshintergrund. In nordrhein-westfälischen Kommunalparlamenten sind nur 11 Prozent der MandatsträgerInnen jünger als 40 Jahre und für die „Bauernpartei“ CSU kandidierte bei der Bundestagswahl niemand aus der Land- oder Forstwirtschaft. Die meisten Abgeordneten stammen hingegen aus Unternehmen und Verwaltung… Diese Aufzählung ließe sich noch lange fortführen und wirft Fragen auf: Sollten im Parlament nicht alle Bevölkerungsgruppen repräsentiert werden? Sollte es nicht geradezu ein Spiegelbild der Gesellschaft sein?

Fehlerhaftes Spiegelbild der Gesellschaft
“Merkel muss weg” – dies war lange Zeit Schlachtruf der Politikverdrossenenen. Forderungen wie diese entspringen gesellschaftlicher Unzufriedenheit, einer Unzufriedenheit mit den politischen RepräsentantInnen. Wer sich nicht repräsentiert fühlt, will auch nicht repräsentiert werden. Wer aber an die Ursache des Übels will und die Krise der Demokratie zu lösen versucht, muss die vielfältigen Repräsentationslücken im deutschen Parlamentarismus beseitigen. Dabei geht es nicht darum, eine “repräsentative” Stichprobe der BürgerInnen zu fordern. Politische Repräsentation ist viel weniger greifbar, sondern wird individuell empfunden. Nur weil die gewählte Person jung ist, muss sie nicht automatisch auch Politik für junge Leute machen und deren Interessen vertreten. Und selbst wenn junge Abgeordnete Politik für junge Leute machen, heißt das nicht, dass sich junge Leute auch tatsächlich repräsentiert fühlen.

Auf der anderen Seite können auch Verwaltungsbeamte die Interessen von Handwerkerinnen vertreten. Dabei ist für die Repräsentation nicht alleine die Qualität einer politischen Entscheidung oder die tatsächliche Fähigkeit der Abgeordneten ausschlaggebend, sondern das individuelle Gefühl der BürgerInnen. Fehlt im Parlament die gesellschaftliche Vielfalt, fehlt auch diesem individuellen Gefühl etwas. Im parlamentarischen Spiegelbild können sich dann nicht alle wiederfinden.

Die Biographien der Bundestagesabgeordneten spiegeln nicht die beruflichen Hintergründe der BürgerInnen wieder, sondern zeigen einen Trend zur “Politik als Beruf”. Wenn eine große Zahl der Abgeordneten aus Verwaltung oder Unternehmen stammt, hat das Folgen: Für die gesellschaftliche Bodenhaftung der Abgeordneten und für das Repräsentationsgefühl der BürgerInnen. Viele wünschen sich Abgeordnete aus sozialen Gruppen, mit denen sie sich selbst identifizieren – Abgeordnete, die sie „zu den eigenen Leuten“ zählen können.

Wahl ohne Auswahl
Aber wo ist eigentlich das Problem? Warum wählen die BürgerInnen nicht einfach mehr Frauen, Handwerkerinnen, Bauern oder junge Leute ins Parlament? Liegt es an einer ungleichen Wahlbeteiligung? Nein, eher nicht. Die Wahlbeteiligung der unterrepräsentierten Gruppen unterscheidet sich kaum von der gesamten Wahlbeteiligung. Nehmen wir also den Wahlzettel unter die Lupe. Dann fällt auf: Schieflagen der Repräsentation gibt es schon unter den KandidatInnen auf Landeslisten, wie im Wahlkreis. So ist beispielsweise der Frauenanteil von KandidatInnen auf den Landeslisten fast deckungsgleich mit dem Frauenanteil im Parlament. Kurz um: BürgerInnen haben also oft gar nicht die Wahl, sich mit den KandidatInnen zu identifizieren.

Die tatsächliche Auswahl der KandidatInnen liegt in Deutschland überwiegend fest in den Händen der Parteien. Sie sind es, die über die Besetzung von Landeslisten und Wahlkreiskandidaturen entscheiden. Fast nie kommen dabei die WählerInnen zu Wort und nur selten die Parteibasis. Ohne öffentliche Beteiligungsverfahren, entscheiden lediglich Delegierte auf Parteitagen. Was für die WählerInnen folgt, ist eine Wahl ohne Auswahl und ein großes Problem: Wer keine Auswahl hat und sich durch die bereits vorgegebene Auswahl nicht repräsentiert fühlt, will womöglich auch gar nicht repräsentiert werden. Diese faktische und gefühlte Krise der Repräsentation trägt zur gesellschaftlichen Unzufriedenheit und damit letztlich zu einer Krise der Demokratie bei.

Eine Möglichkeit zur Bewältigung dieser vielschichtigen Repräsentationslücken, könnte die Einführung von Vorwahlen sein. Wie genau so etwas aussehen könnte, erklären wir nächste Woche (am 03.12.2018) im hammelsprung. Wenn BürgerInnen über die Auswahl der KandidatInnen und Abgeordneten selbst entscheiden würden, könnte auch das Parlament leichter zum Spiegelbild der Gesellschaft werden. Schwarz oder dunkelgrau, gestreift oder kariert – Bilder von Verhandlungstischen und Führungsriegen könnten künftig deutlich bunter und vielfältiger werden. Das persönliche Gefühl, repräsentiert zu werden, würde dann auch das Vertrauen in politische RepräsentantInnen stärken.

Ein Beitrag von Marcus Lamprecht und Jonathan Schneider.

Noch Fragen? Eine ausführliche wissenschaftliche Analyse finden Sie in Kürze auf Regierungsforschung.de.

Marcus Lamprecht studierte Politikwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Dort war er von 2013 bis August 2018 im Allgemeinen Studierendenausschuss (AStA) aktiv. Seit September 2018 ist er im Vorstand des studentischen Bundesverbandes fzs (freier zusammenschluss von student*innenschaften).

Jonathan Schneider ist Chefredakteur des hammelsprung. Er studierte Politikwissenschaft und Psychologie in Heidelberg und ist seit 2017 Masterstudent an der NRW School of Governance. Praktische Erfahrung sammelte er u.a. in TV- und Radio-Redaktionen sowie bundespolitischen Institutionen.